Am Anfang war die Sequenz
Manchmal sagen Bilder mehr als Worte. Das wissen Focus und Bild sehr genau, weshalb diese dazu neigen auch mal den Text ganz wegzulassen, was sehr unbefriedigend sein kann. Auch in Filmen ist es zuweilen so, dass eine einzige Sequenz für den ganzen Film stehen kann. Das wiederum sind meist sehr erhabene Momente.
In Andrei Tarkowskis letztem Film Opfer (Offret, 1986) existiert eine solche, sehr eindrucksvolle Sequenz: Wenn ziemlich gegen Ende der 149 Minuten Alexander nach der Nacht mit Maria endlich um Erlösung suchend sein Haus anzündet, entfernt sich die Kamera erst unmerklich von dem brennenden Haus. Bald kreist sie (scheinbar) orientierungslos um die Sanitäter, die in einer merkwürdigen Aktion Alexander einfangen und schließlich wegbringen. Zu guter Letzt spricht der bis dahin stumme Sohn seine ersten Worte: “Am Anfang war das Wort. Warum Papa?”
In dieser Sequenz steckt die Essenz des gesamten Films, und sie bricht hier förmlich heraus. Doch selbst die Worte des Sohnes können nicht so recht trösten, auch ihnen haftet etwas Vorwurfsvolles an und der Vater kann sie nicht mehr hören, die Erlösung wird ihm verwehrt.
Michael Haneke ist in Das Weisse Band (2009) ebenfalls eine solche Sequenz gelungen, von der der Verleih leider kein Bild zur Verfügung stellt, weshalb an dieser Stelle das Wort herhalten muss (Achtung Spoiler!):
Im Hintergrund liegt dunkel der Hof des Bauern, im Vordergrund ein frischer Holzsarg auf einem Pferdewagen. Es schneit, das Dorf liegt unter einer weißen Schneedecke und das sowieso schon sehr kontrastreiche schwarz-weiße Filmmaterial wirkt an dieser Stelle noch eine Spur knackiger. Hinter dem Einspänner hat sich die kleine Trauergemeinde in Zweier-Reihen aufgestellt: erst die älteste Tochter (Frieda) und ein Sohn (Karl), dann die jüngeren Kinder und abschließend ein paar Ältere.
Kein Schnitt, die Kamera bleibt in der Totalen: Max, der älteste Sohn, tritt ins Bild, ist offenbar überrascht (vom Tod des Vaters?) und bleibt kurz stehen. Dann überwindet er sich und geht auf die Gesellschaft zu, um jedem die Hand zu reichen. Einer der Männer geht dem Sohn aus dem Weg und vermeidet den Händedruck. Max ignoriert die Situation — die übrigen zeigen ebenfalls keine Reaktion — und stellt sich in die erste Reihe der kleinen Trauergemeinschaft. Frieda rückt wie selbstverständlich wortlos in die zweite Reihe und überlässt den beiden Söhnen die ersten Reihe. Auf ein Zeichen von Max setzt sich der Zug schweigend in Bewegung.
Alle grundlegenden Elemente des Films verdichten sich in dieser einen Sequenz: Tod, familiäre Hierarchie und unausgesprochene Feindschaften. Und, wenn man so will, symbolisiert das starre Framing der Einstellung auch noch den starren gesellschaftlichen Rahmen. Ein Meisterwerk und ein würdiger Gewinner der Palme d’Or 2009.
Offret war 1986 übrigens auch für die Palme nominiert, bekam aber den Grand Prix Spécial du Jury. Immerhin. An The Mission, den damaligen Gewinnerfilm von Roland Joffé, erinnert sich heute keiner mehr. Es fehlte wahrscheinlich die eine Sequenz, die einen Film unvergesslich werden lässt.
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