Auf ein Wort, Genosse Dath

Lieber Diet­mar,

ich schreibe dir auf diesem Weg, weil ich meine, dass das, was ich dir zu sagen habe, nicht nur dich und mich angeht.

Eben habe ich deine Rosa Lux­em­burg-Biografie gele­sen, von deren Exis­tenz ich erst vor eini­gen Wochen mit Erstaunen erfahren habe. Ein schönes Büch­lein, klug und richtig und der Per­son gerecht wer­dend in der Wahl, es dezi­diert und unmissver­ständlich poli­tisch anzule­gen. Es gibt jedoch ein paar Sachen, die mich stören, und über die ich mit dir reden muss.

Dass dein Buch an vie­len Stellen ein biss­chen sehr rasch über wichtige Ereignisse hin­weghuscht, lässt sich wohl mit der Knap­pheit des in diesem For­mat ver­füg­baren Platzes recht­fer­ti­gen. Du hast dich aus guten Grün­den entsch­ieden, das Haupt­gewicht auf den The­o­ri­eteil zu leg­en. Dass vieles nicht gut belegt wird, ergibt sich meinetwe­gen aus seinem nicht-akademis­chen Charak­ter. Wer’s genauer wis­sen will kann ja woan­ders nach­le­sen. Dass schlampig redigiert wurde und so ein stilis­tis­ches Ungle­ichgewicht zwis­chen hol­pri­gen Satz­fol­gen und wun­der­schön durch­dacht­en und for­mulierten Sen­ten­zen ent­standen ist – geschenkt. Vielle­icht soll­ten die Ver­ant­wortlichen vom Ver­lag da manch­mal ein biss­chen mehr Mit­gestal­tungswillen zeigen und nicht nur Kom­ma­ta kor­rigieren. Dass du dich schließlich entschei­dest, auf die weib­liche zugun­sten der durchge­hend männlichen Schreib­weise zu verzicht­en – das ist schon ein schw­er­wiegen­deres und weniger entschuld­bares Prob­lem. Immer nur (z.B.) «Stu­den­ten» (statt «Stu­dentin­nen» oder «Stu­dentIn­nen» oder «Stu­dentin­nen und Stu­den­ten» oder mal das eine, mal das andere oder mit Unter­strich oder wie auch immer) zu schreiben – das ist wirk­lich ein hoff­nungslos­er und oben­drein reich­lich reak­tionär­er Anachronismus.

Aber auch das ist nicht mein Haup­tan­liegen. Das Kern­prob­lem dein­er Schrift (es bet­rifft in gle­ich­er Weise dein Maschi­nen­win­ter, auch dies ein Buch, das ich – trotz manch­er Schwächen – sehr mag) beste­ht in deinem unverbesser­lichen Lenin­is­mus. Ein Beispiel: In dein­er Diskus­sion von Lenins und Lux­em­burgs Posi­tio­nen zur Organ­i­sa­tions­frage schreib­st du:

Sieht man sich den Ver­lauf der rus­sis­chen Rev­o­lu­tio­nen von 1905 und 1917 an und ver­gle­icht sie mit dem der gescheit­erten deutschen Rev­o­lu­tion von 1918/19, so haben Lenins Argu­mente zumin­d­est für die dama­lige his­torische Etappe viel für sich: Was er in Ein Schritt vor­wärts, zwei Schritte zurück anmah­nt [die Ein­rich­tung eines Zen­tralkomi­tees mit sehr weit­ge­hen­den Befug­nis­sen], ist genau das, was den Eingeschlosse­nen von Berlin, darunter Rosa Lux­em­burg, im entschei­den­den Augen­blick tragisch fehlen wird.

Ähn­liche Stellen, im weit­eren Ver­lauf sog­ar noch sehr viel deut­lichere, find­en sich im ganzen Buch; aber die hier tut’s erst mal und ich komme gle­ich auf sie zurück. 

In vielem bin ich ja mit dir – gegen viele andere Marx­istin­nen – ein­er Mei­n­ung, etwa im Fes­thal­ten am wis­senschaftlichen Anspruch des Marx­is­mus, den du ganz schön (und halb­wegs richtig) mit fol­gen­den Worten verteidigst:

Da aber, ganz abge­se­hen von den marx­is­tis­chen Analy­sen, das marx­is­tis­che Pro­gramm (…) nicht ver­wirk­licht ist, bleibt die Idee vom «wis­senschaftlichen Sozial­is­mus» sowenig Wider­spruch oder Unsinn wie etwa «wis­senschaftlich­es Orch­es­ter­di­rigieren»: Dass der Abend ein Erfolg wird, ist mit der musikol­o­gis­chen Aus­bil­dung des Diri­gen­ten nicht garantiert, aber bess­er als nach dem Vor­satz «jede und jed­er musiziert halt irgend­was, so gut sie oder er kann» gerät er wahrschein­lich schon.

Ganz abge­se­hen davon, dass in diesem Bild die Musik­er auch Frauen sein dür­fen, du dir den Diri­gen­ten aber offen­sichtlich als Mann vorstellst (und das aus­gerech­net in ein­er Lux­em­burg-Biografie?) – wozu braucht dieses Beispiel über­haupt wieder diesen Lenin­is­tis­chen bias? Warum nicht ein­fach nur von der musikol­o­gis­chen Aus­bil­dung der Musik­erin­nen sprechen und fer­tig? Offen­bar weil du eigentlich Lenin­is­mus meinst, wenn du Wis­senschaftlichkeit schreibst.

Und ger­ade das passt eben nicht zusam­men. Zurück zum ersten Zitat, der Ableitung ein­er Kausal­folge (nur mit Zen­tralkomi­tee wer­den Rev­o­lu­tio­nen gewon­nen) aus ein­er schlicht­en Kor­re­la­tion (in einem Fall erfol­gre­iche Rev­o­lu­tion mit ZK, im anderen wed­er noch) – da wen­den sich Sozi­olo­gi­es­tu­dentin­nen schon nach zwei Semes­tern angewidert ab. Und zu recht: schlichter gedacht geht’s ja kaum noch. Vor allem ste­ht es dem Marx­is­ten sehr schlecht zu Gesicht, hier zwei doch bekan­ntlich poli­tisch, ökonomisch und kul­turell kom­plett ver­schiedene Län­der als struk­tur­gle­ich zu behan­deln. Äpfel wie Birnen…

Aber lassen wir das; nehmen wir ein­mal (sehr großzügig) an, es würde stim­men: die Rev­o­lu­tion habe in Rus­s­land tat­säch­lich nur dank Avant­garde­poli­tik und stram­mer Kader­führung gesiegt. Man müsste trotz­dem drin­gend vom Wieder­holen dieser Tak­tik abrat­en. Wir wer­den doch heute kaum auf dem Erken­nt­nis­stand von 1919 ste­hen bleiben und den restlichen Geschichtsver­lauf ein­fach ignori­eren wollen. Der aber zeigt glasklar: In allen Län­dern, in denen der Sozial­is­mus durch eine führende Clique errun­gen wurde, ist man diese Clique nach der siegre­ichen Rev­o­lu­tion zu keinem Zeit­punkt mehr los­ge­wor­den. Sie hat in ihrer Überzeu­gung, als einzige das wahre Wis­sen zu besitzen, und in ein­er nicht zu unter­schätzen­den Para­noia vor der Kon­ter­rev­o­lu­tion, die bekan­ntlich beson­ders gern in den eige­nen Rei­hen ver­mutet wurde, allerorts blutige Autokra­tien errichtet, die die kom­mu­nis­tis­che Idee ein­er herrschafts- und aus­beu­tungs­freien Gesellschaft aufs Gründlich­ste per­vertiert haben. Das gilt ausnahmslos.

Der Weg aus ein­er staat­sozial­is­tis­chen Autokratie in eine vernün­ftige kom­mu­nis­tis­che Demokratie ist nicht gang­bar – das zeigt die Geschichte, zeigt auch ein wenig ein­fache Pycholo­gie. Noch mal: Gewon­nen wurde der Kampf mit lenin­is­tis­ch­er Tak­tik nie, er wurde stets – in the long run (und so long war der meis­tens nicht) – ver­loren! Win­nig a bat­tle, los­ing the war – das kann doch wohl kaum deine Strate­gieempfehlung sein. Dir liegt doch das ein­fache Räson­nement, das wirst du doch ein­se­hen: Wenn eine Mannschaft mit der falschen Tak­tik in ein Spiel geht, zwar ein früh­es 1:0 markiert, dann aber 1:5 ver­liert, wird man ihr kaum rat­en, im näch­sten Spiel die gle­iche Tak­tik anzuwen­den. Man wird erwarten, dass sie aus ihren Fehlern lernt.

Und aus diesem ein­fachen Grund ist es heute ganz und gar unmöglich bei­des zu sein: Marx­istin und Lenin­istin. Die Marx­istin lernt aus der Geschichte.

Hochachtungsvoll,

Gui­do

3 Meinungen zu “Auf ein Wort, Genosse Dath

  1. […] bezweifelt wer­den müssten? Mein Ein­druck ist näm­lich: ALLES bestätigt ihn let­ztlich in seinem Marx­is­mus-Lenin­is­mus. Da stimmt doch was nicht. Wie ver­hin­dert man, dass man selb­st so wird? Tweet /**/ Hinterlasse […]

  2. Und? Hat Dath geantwortet?

  3. Bish­er lei­der nicht. Vielle­icht ist der Brief nicht angekom­men… Würde mich auch inter­essieren, was er antworten würde.

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