Leseempfehlung
Gute Beiträge zur Einschätzung der Corona-Krise liefert Floris Biskamp auf seinem Blog Asketismus und Bummelei. Ich habe eben die letzten beiden Einträge gelesen und kann die Lektüre nur empfehlen. Im ersten setzt er sich mit dem Schwachsinn der Idee der Herdenimmunität auseinander; im zweiten hinterfragt er die Heinsberg-Studie.
Wohin die Reise gehen soll, 3
Allgemein gesagt ist das größte Problem des Kapitalismus in Zeiten der Krise, dass die individuellen Reaktionen von Unternehmer*innen gesamtheitlich betrachtet nichtintendierte negative Folgen haben: Eine Unternehmer*in entlässt die Hälfte ihrer Belegschaft, weil sie die Gehälter nicht mehr zahlen kann. Die entlassene Belegschaft verliert mit ihrem Einkommen ihre Kaufkraft, daher geht die Nachfrage von Konsumartikeln zurück. Das belastet wieder andere Unternehmer*innen, die ihrerseits nun entlassen müssen undsoweiter.
Daraus ergibt sich ein dynamisches Schrumpfen der Wirtschaft, die sogenannte Rezession. Für „die Wirtschaft“ ist das schlecht, für die entlassenen Leute auch. Gut dagegen ist es für die Natur und das Klima.
Wahnsinnig unfair ist der Kapitalismus, weil die Krisenfolgen so wahnsinnig ungleich verteilt sind: Manche (etwa Lebensmittelhändlerinnen) profitieren, während andere (etwa Restaurantbesitzerinnen) leiden. Egal, ob die Krise endogen (z.B. durch Finanz- und Immobilienspekulation) oder exogen (z.B. durch eine Pandemie) produziert wurde, im Kapitalismus treffen die Folgebelastungen manche sehr hart, manche gar nicht. Der Idee individueller Verantwortung spricht das Hohn (jede ist ihres Glückes Schmiedin, hoho): Warum sollte es meine Schuld sein, wenn ich statt eines Gemüseladens ein Falafelrestaurant eröffnet habe?
Alternative Wirtschaftsmodelle müssten sich also unter anderem daran messen lassen, dass sich a) aus Krisen keine die Krisen verstärkenden Krisendynamiken ergeben, und b) dass die positiven wie die negativen Effekte des Wirtschaftens ungefähr gleichmäßig verteilt werden.
street wisdom (1)
Wohin die Reise gehen soll, 2
Zu vage, habe ich geschrieben, seien die Vorstellungen von der nichtkapitalistischen Wirtschaft, und bin dann selbst ganz vage geblieben. Im Folgenden möchte ich versuchen, diese Vagheit nach und nach zu beheben und meinen Vorschlag zu konkretisieren.
Die Elemente nichtkapitalistischer Ökonomie, die es heute bereits gibt, und die sich in eine nachkapitalistische überführen ließen, lassen sich meines Erachtens in zwei Gruppen einteilen. Die erste nenne ich “demokratisch-sozialistisch” (dem.soc), die zweite “kommunistisch” (com).
Dem.soc sind die Bereiche, die in ihrer Gestalt der kapitalistischen Ökonomie insofern ähneln, als es hier noch Warentausch und Lohnarbeit gibt. Allerdings unterliegen die Waren ebenso wie deren Preise und auch die Löhne einer demokratischen Kontrolle. Das gilt im Prinzip für alle Bereiche des wirtschaftlichen Lebens, die in öffentlicher Hand sind, beispielsweise ÖPNV. Weitere Bereiche zu sozialisieren, wie etwa Wohneigentum, ist daher eine logische Forderung linker Politik. Es gibt dazu bereits durchdachte und vernünftige Vorschläge.
Com nenne ich Bereiche, die ganz ohne Warentausch und Lohnarbeit auskommen. Beispiele wären hier die freie Software und Wikipedia, die in kommunistischer Produktionsweise entstanden sind: Freiwillig Assoziierte arbeiten gemeinsam an Produkten, die dann kostenfrei der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. (Wer dazu mehr erfahren möchte, liest am besten die älteren Texte von Christian Siefkes.) Als Beispiele kommunistischer Distributionsweise lässt sich auf P2P-Netzwerke verweisen. (BitTorrent ist die perfekte Technik kommunistischer Verteilung: dezentraler bedürfnisorientierer Austausch unter Gleichen.)
Auf einfache Formeln gebracht, bietet sich dem.soc überall dort an, wo es um das Teilen und Verteilen von im Prinzip knappen Gütern wie Raum und Mobilität geht, während com dort funktioniert, wo kopiert werden kann. Wenn die Grundformel der Marktwirtschaft (cap) der
Tausch (barter)
X: A / Y: B –> X: B / Y: A
ist, ist die Grundformel von dem.soc das
Teilen (sharing)
X: A / Y: B –> X: 0,5A & 0,5B / Y: 0,5A & 0,5B
während com das
Kopieren (copying)
X: A / Y: B –> X: A & B / Y: A & B
zugrunde liegt.