Berlinale: Rumänischer Wettbewerbsbeitrag
Eigentlich ist es in jedem Jahr das gleiche. Erst stürze ich mich wie ein Doofer in jede angebotene Pressevorführung, stelle dann fest, dass da viel Mist läuft, bekomme schlechte Laune und einen gehörigen Hass auf die Veranstalter der Berlinale: Wie kann man dem Publikum so einen Schrott vorsetzen? Nach einem Tag Retrospektiven-Katharsis wird meine Wahl dann selektiver, und siehe da: Auch unter den neuen Filmen, selbst jenen, die im Wettbewerb laufen, finden sich ein paar Perlen.
Die bisherige Entdeckung ist für mich Eu cand vreau sa fluier, fluier (If I Want to Whistle, I Whistle, ROM 2010) von Florin Serban. An anderer Stelle hat Lukas Förster auf die ästhetische Verankerung in der neuen rumänischen Filmbewegung hingewiesen (alles deutet darauf hin, dass das rumänische zur Zeit das interessanteste europäische Kino ist), und auf die Finesse und den Realismus, mit der die räumlichen wie sozialen Verhältnisse im Jugendknast dargestellt werden. Er moniert jedoch Schwächen im Drehbuch. Und da bin ich ausnahmsweise nicht seiner Meinung (sondern eher der des Kommentars von Ekkehard Knörer).
Ich kann zwar den Wunsch verstehen, lieber noch mehr über die Knastverhältnisse erfahren zu wollen. Aber die Wendung, die der Plot nimmt, scheint mir konsequent — durch die vorherigen Ereignisse sogar sehr gut motiviert — und darüber hinaus politisch klug.
Ohne zu viel verraten zu wollen: Es handelt sich um einen Gewaltausbruch, der auf die Ohnmacht reagiert, die einer der jungen Gefangenen erfährt. Nicht nur muss er hilflos mit ansehen, wie seine Mutter (die sich nie um ihn gekümmert hat, und der er eine Mitschuld an seinem Schicksal zuschreibt) seinen Bruder mit in ihre Wahlheimat Italien nehmen will, er fühlt sich außerdem von der Interview-Situation gedemütigt, in die ihn eine Gruppe akademischer Soziologen gebracht hat. Die Gewalt richtet sich gegen diese Verhältnisse, sie ist spontan und ergibt sich aus der Situation (enttäuschte Hoffung auf ein intimes Gespräch mit einer der Interviewerinnen), und ist trotzdem nicht irrational.
Sie antwortet auf die Demütigungen, die er von Seiten der Mitgefangenen erfahren hat (richtet sich aber nicht direkt gegen diese, die nur Teil des Knastsystems sind, das selbst staatlicher Natur ist), reagiert auf die Hilflosigkeit, die er als von der Außenwelt Isolierter bezüglich der Situation seines Bruders erlebt, den er beschützen will, sowie auf die Klassenbarrieren, die ihn für immer von der Studentin, in der er sich verliebt hat, trennen werden — und die wiederum gewissermaßen auch gewaltförmig sind. Am Ende steht ein kleiner, dreifacher Sieg: der der Mutter abgepresste Schwur, den Bruder nicht mitzunehmen; der wiederhergestellte Respekt der Mitgefangenen und einige Minuten in Freiheit, in einem Café, mit der hübschen Soziologin. (Wobei der Film so klug ist, nicht so zu tun, als ob damit alles getan wäre — das Schweigen zwischen den beiden ist Zeichen der sich fortschreibenden Klassenbarrieren, deren Verschwinden nicht so einfach zu erzwingen ist.)
Ich will damit nicht sagen, dass nur Gewalt hilft, wo Gewalt herrscht, aber doch, dass sie in gewissen Fällen mehr als verständlich und politisch legitim und auch politisch klug ist und dass der Film das genau so zeigt (und dabei trotzdem auch deren Grenzen nicht verschweigt) — und dass ich das ganz großartig finde.
Außerdem freut mich, dass auf der Berlinale solche Filme in großen Kinos bei vollem Haus zu sehen sind, während sich in der regulären “Auswertung” — wenn es denn dann überhaupt eine gibt — maximal zehn Nasen pro Vorstellung im fsk einfinden.
UPDATE:
Bei weiterem Nachdenken ist mir aufgefallen (nein aufgefallen war es mir schon vorher, aber jetzt stört es mich), dass der Film doch auch ein großes Problem hat: nämlich in genderpolitischer Hinsicht. Die einzigen beiden Frauen sind a) eine Rabenmutter b) ein hilfloses Opfer. Ich denke, dass das eigentlich nicht entschuldbar ist. Schade, das nimmt mir etwas von meiner Begeisterung für den Film.