Die Moral der Form (I): Romuald Karmakar

Romuald Kar­makars Herange­hensweise an die Real­ität der Hand­lun­gen ist phänom­e­nol­o­gisch-erkun­dend. Die Phänomene wer­den kom­men­tar­los zum Sprechen gebracht, bis sie sich selb­st kom­men­tieren. Alexan­der Hor­wath spricht von einem „gereizten Fremd­heits­ge­fühl“, aus dem sich Kar­makars dis­tanziert­er, beobach­t­en­der, immer jedoch: insistieren­der Blick – vor allem auf Deutsch­land – speist. Zwis­chen Blick und Bild schiebt sich eine gläserne Wand, die den Blick davor bewahrt, dem Gegen-Stand zu ver­fall­en. Die Kam­era ist nie Teil der porträtierten (Lebens-)Welt, sie bewegt sich – mit Wittgen­stein for­muliert – an der Gren­ze dieser Welt. Ger­ade wegen dieser sturen Kom­men­tar- und Teil­nahm­slosigkeit wird der Zuse­her sehr unver­mit­telt auf die Materie gestoßen, gezwun­gen, sich in Posi­tion zu set­zen. Das Sujet erhält (zu) viel Raum, sich aufzu­drän­gen, weh zu tun, sich dar- und bloßzustellen. Dieser Raum ist allerd­ings genauestens definiert, kadri­ert. Kar­makar bringt die gestal­ter­ischen Mit­tel auf einen Nullpunkt des Kaum-Vorhan­den­seins, um sie von dort aus neu zu definieren.

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Mit Roland Barthes kann von ein­er „Moral der Form“ gesprochen wer­den, an der Kar­makar kon­se­quent arbeit­et: Diese ist eigen­willig und indi­vidu­ell, fügt sich keinem nor­ma­tiv­en Druck, bleibt aber auf ihre Weise an die Gesellschaft rück­ge­bun­den und übern­immt Ver­ant­wor­tung. Die Moral der Form ist ein „Kom­pro­miß zwis­chen Frei­heit und Erin­nerung“, eine sich erin­nernde Frei­heit, „Frei­heit in der Geste der Wahl“. Bei Kar­makar wird jed­er Schnitt, jede Schriftein­blendung, jed­er Per­spek­tiven­wech­sel zu ein­er Geste der Ver­ant­wortlichkeit, zum Aus­druck ein­er getrof­fe­nen Wahl. Ger­ade aus dieser selb­st aufer­legten Beschränkung schöpfen seine Filme ihre Möglichkeit­en, ihre Energie, ihre Ner­vosität, ihre Radikalität.

In den Fil­men Kar­makars find­en sich wiederkehrende Struk­turen, Zugangsweisen und The­men. Mit Between the Dev­il and the Wide Blue Sea (2005) knüpfte er an jene min­i­mal­is­tis­che Erkun­dung der Tech­no-Szene an, die mit 196 BPM (2003) ihren Aus­gang nahm. In bei­den Fällen han­delt es sich um Erkun­dungs­gänge, die sich durch eine spezielle Mis­chung aus tranceähn­lich­er Ein­füh­lung, gle­ich­schweben­der Aufmerk­samkeit und beobach­t­en­der Dis­tanz­nahme ausze­ich­nen. Somit kom­men sowohl Anhänger der Szene als auch skep­tis­che Ana­lytik­er auf ihre Rechnung.

Auch Das Himm­ler­pro­jekt (2000) und Kar­makars let­zter (Lang-)Film, Ham­burg­er Lek­tio­nen (2006), bilden ein struk­turho­mologes Paar. In bei­den Fil­men fungiert die Stimme und das Gesicht von Man­fred Zap­at­ka als Über­tra­gungsmedi­um. Während es in Das Himm­ler­pro­jekt um die Rekon­struk­tion und Wieder­gabe von Himm­lers berüchtigter Posen­er Rede vom 4. Okto­ber 1943 geht, und zwar in voll­ständi­gem Wort­laut, drei Stun­den lang, basieren Kar­makars Ham­burg­er Lek­tio­nen auf Videomitschnit­ten zweier Sitzun­gen bzw. Lek­tio­nen von Mohammed Fazazi, der in den 90ern Imam der Al-Quds-Moschee in Ham­burg wurde. Drei der vier Selb­st­mord­pi­loten, die an den Anschlä­gen vom 11. Sep­tem­ber 2001 beteiligt waren, standen in engem Kon­takt mit dieser Moschee. 

Bei­de Filme bieten die ein­ma­lige Gele­gen­heit, Argu­men­ta­tion­s­gän­gen und men­schen­ver­ach­t­en­den Sprechak­ten dabei zuzuören, auch zuzuschauen, wie sie über sich selb­st stolpern, sich zu Para­dox­ien auswuch­ern und allmäh­lich selb­st der Lächer­lichkeit preis geben, etwas, was zuvor vielle­icht nur Hel­mut Qualtinger mit sein­er Lesung von Mein Kampf geschafft hat. Zap­at­ka über­mit­telt das Sprach­ma­te­r­i­al konzen­tri­ert, dis­tanziert, ent­drama­tisiert. Hin und wieder huscht ein befremde­ter, angewidert­er Aus­druck über sein Gesicht, schle­icht sich ein Hauch von Wut in seine zumeist aus­druck­slose Stimme. Worterk­lärun­gen und Fußnoten sind klar markiert, indem sie in eine andere Kam­era gesprochen wer­den.  Keine Zeile wurde aus­ges­part, der Zuse­her, Zuhör­er erhält Raum, Denkweite, seinen eige­nen Text zu pro­duzieren. JEDES WORT ZÄHLT.

Voraus­sichtlich­er zweit­er Teil von “Moral der Form”: über Tina Leischs Gang­ster Girls (Ö 2008).


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