Adventskalender

Die schönste Weihnachtsgeschichte

Nach­dem sich gestern das let­zte Türchen im lyrischen Adventskalen­der geöffnet hat, haben wir hier noch eine kleine pro­sais­che Dreingabe. Es han­delt sich um nichts weniger als die schön­ste Wei­h­nachts­geschichte aller Zeit­en. Sie eignet sich trotz ihres Titels auch für Athe­istin­nen, Agnos­tik­er und andere Wei­h­nachtsmuf­fel. Ihre Lek­türe sei allen sehr emp­fohlen, man kann sie auch laut vor­lesen und anderen eine Freude machen. Enjoy!

Das Paket des lieben Gottes 
(Bertolt Brecht) 

Nehmt eure Stüh­le und eure Teegläs­er mit hier hin­ter an den Ofen und vergeßt den Rum nicht. Es ist gut, es warm zu haben, wenn man von der Kälte erzählt.

Weihnachtsbaum Chicago PostkarteManche Leute, vor allem eine gewisse Sorte Män­ner, die etwas gegen Sen­ti­men­tal­ität hat, haben eine starke Aver­sion gegen Wei­h­nacht­en. Aber zumin­d­est ein Wei­h­nacht­en in meinem Leben ist bei mir wirk­lich in bester Erin­nerung. Das war der Wei­h­nachtsabend 1908 in Chica­go. Ich war Anfang Novem­ber nach Chica­go gekom­men, und man sagte mir sofort, als ich mich nach der all­ge­meinen Lage erkundigte, es würde der härteste Win­ter wer­den, den diese ohne­hin genü­gend unan­genehme Stadt zus­tande brin­gen kön­nte. Als ich fragte, wie es mit den Chan­cen für einen Kesselschmied stünde, sagte man mir, Kesselschmiede hät­ten keine Chan­cen, und als ich eine halb­wegs mögliche Schlaf­stelle suchte, war alles zu teuer für mich. Und das erfuhren in diesem Win­ter 1908 viele in Chica­go, aus allen Berufen.

Und der Wind wehte scheußlich vom Michi­gansee herüber durch den ganzen Dezem­ber, und gegen Ende des Monats schlossen auch noch eine Rei­he großer Fleis­ch­pack­ereien ihren Betrieb und war­fen eine ganze Flut von Arbeit­slosen auf die kalten Straßen.

Wir tra­bten die ganzen Tage durch sämtliche Stadtvier­tel und sucht­en verzweifelt nach etwas Arbeit und waren froh, wenn wir am Abend in einem winzi­gen, mit erschöpften Leuten ange­füll­ten Lokal im Schlachthofvier­tel unterkom­men kon­nten. Dort hat­ten wir es wenig­stens warm und kon­nten ruhig sitzen. Und wir saßen, solange es irgend ging mit einem Glas Whisky, und wir sparten alles den Tag über auf für dieses eine Glas Whisky, in das noch Wärme, Lärm und Kam­er­aden mit ein­be­grif­f­en waren, all das, was es an Hoff­nung für uns noch gab.

Dort saßen wir auch am Wei­h­nachtsabend dieses Jahres, und das Lokal war noch über­füll­ter als gewöhn­lich und der Whisky noch wäßriger und das Pub­likum noch verzweifel­ter. Es ist ein­leuch­t­end, daß wed­er das Pub­likum noch der Wirt in Fest­stim­mung ger­at­en, wenn das ganze Prob­lem der Gäste darin beste­ht, mit einem Glas eine ganze Nacht auszure­ichen, und das ganze Prob­lem des Wirtes, diejeni­gen hin­auszubrin­gen, die leere Gläs­er vor sich ste­hen hatten.

Aber gegen zehn Uhr kamen zwei, drei Burschen here­in, die, der Teufel mochte wis­sen woher, ein paar Dol­lars in der Tasche hat­ten, und die luden, weil es doch eben Wei­h­nacht­en war und Sen­ti­men­tal­ität in der Luft lag, das ganze Pub­likum ein, ein paar Extragläs­er zu leeren. Fünf Minuten darauf war das ganze Lokal nicht wiederzuerken­nen. Alle holten sich frischen Whisky (und paßten nun unge­heuer genau darauf auf, daß ganz kor­rekt eingeschenkt wurde), die Tis­che wur­den zusam­mengerückt, und ein ver­froren ausse­hen­des Mäd­chen wurde gebeten, einen Cake­walk zu tanzen, wobei sämtliche Fest­teil­nehmer mit den Hän­den den Takt klatscht­en. Aber was soll ich sagen, der Teufel mochte seine schwarze Hand im Spiel haben, es kam keine rechte Stim­mung auf.

Ja, ger­adezu von Anfang an nahm die Ver­anstal­tung einen direkt bösar­ti­gen Charak­ter an. Ich denke, es war der Zwang, sich beschenken lassen zu müssen, der alle so aufreizte. Die Spender dieser Wei­h­nachtsstim­mung wur­den nicht mit fre­undlichen Augen betra­chtet. Schon nach den ersten Gläsern des ges­tifteten Whiskys wurde der Plan gefaßt, eine regel­rechte Wei­h­nachts­bescherung, sozusagen ein Unternehmen größeren Stils, vorzunehmen.

Da ein Über­fluß an Geschenkar­tikeln nicht vorhan­den war, wollte man sich weniger an direkt wertvolle und mehr an solche Geschenke hal­ten, die für die zu Beschenk­enden passend waren und vielle­icht sog­ar einen tief­er­en Sinn hatten.

So schenk­ten wir dem Wirt einen Kübel mit schmutzigem Schnee­wass­er von draußen, wo es davon ger­ade genug gab, damit er mit seinem alten Whisky noch ins neue Jahr hinein aus­re­ichte. Dem Kell­ner schenk­ten wir eine alte, erbroch­ene Kon­ser­ven­büchse, damit er wenig­stens ein anständi­ges Ser­vices­tück hätte, und einem zum Lokal gehöri­gen Mäd­chen ein schar­tiges Taschen­mess­er, damit sie wenig­stens die Schicht Pud­er vom ver­gan­genen Jahr abkratzen könnte.

Alle diese Geschenke wur­den von den Anwe­senden, vielle­icht nur die Beschenk­ten ausgenom­men, mit her­aus­fordern­dem Beifall bedacht. Und dann kam der Hauptspaß.

Es war näm­lich unter uns ein Mann, der mußte einen schwachen Punkt haben. Er saß jeden Abend da, und Leute, die sich auf der­gle­ichen ver­standen, glaubten mit Sicher­heit behaupten zu kön­nen, daß er, so gle­ichgültig er sich auch geben mochte, eine gewisse, unüber­windliche Scheu vor allem, was mit der Polizei zusam­men­hing haben mußte. Aber jed­er Men­sch kon­nte sehen, daß er in kein­er guten Haut steckte.

Für diesen Mann dacht­en wir uns etwas ganz Beson­deres aus. Aus einem alten Adreßbuch ris­sen wir mit Erlaub­nis des Wirtes drei Seit­en aus, auf denen lauter Polizei­wachen standen, schlu­gen sie sorgfältig in eine Zeitung und über­re­icht­en das Paket unserm Mann.

Es trat eine große Stille ein, als wir es über­re­icht­en. Der Mann nahm das Paket zögernd in die Hand und sah uns mit einem etwas kalki­gen Lächeln von unten her­auf an. Ich merk­te, wie er mit den Fin­gern das Paket anfühlte, um schon vor dem Öff­nen festzustellen, was darin sein kön­nte. Aber dann machte er es rasch auf.

Und nun geschah etwas sehr Merk­würdi­ges. Der Mann nestelte eben an der Schnur, mit der das “Geschenk” ver­schnürt war, als sein Blick, schein­bar abwe­send, auf das Zeitungs­blatt fiel, in das die inter­es­san­ten Adreßbuch­blät­ter geschla­gen waren. Aber da war sein Blick schon nicht mehr abwe­send. Sein ganz­er dün­ner Kör­p­er (er war sehr lang) krümmte sich sozusagen um das Zeitungs­blatt zusam­men, er bück­te sein Gesicht tief darauf herunter und las. Niemals, wed­er vor- noch nach­her, habe ich je einen Men­schen so lesen sehen. Er ver­schlang das, was er las, ein­fach. Und dann schaute er auf. Und wieder habe ich niemals, wed­er vor- noch nach­her, einen so strahlend schauen sehen wie diesen Mann.

Da lese ich eben in der Zeitung”, sagte er mit ein­er ver­rosteten, müh­sam ruhi­gen Stimme, die in lächer­lichem Gegen­satz zu seinem strahlen­den Gesicht stand, “daß die ganze Sache ein­fach schon lang aufgek­lärt ist. Jed­er­mann in Ohio weiß, daß ich mit der ganzen Sache nicht das ger­ing­ste zu tun hat­te.” Und dann lachte er.

Und wir alle, die erstaunt dabei­s­tanden und etwas ganz anderes erwartet hat­ten und fast nur begrif­f­en, daß der Mann unter irgen­dein­er Beschuldigung ges­tanden und inzwis­chen, wie er eben aus diesem Zeitungs­blatt erfahren hat­te, reha­bil­i­tiert wor­den war, fin­gen plöt­zlich an, aus vollem Halse und fast aus dem Herzen mitzu­lachen, und dadurch kam ein großer Schwung in unsere Ver­anstal­tung, die gewisse Bit­terkeit war über­haupt vergessen, und es wurde ein aus­geze­ich­netes Wei­h­nacht­en, das bis zum Mor­gen dauerte und alle befriedigte.

Und bei dieser all­ge­meinen Befriedi­gung spielte es natür­lich gar keine Rolle mehr, daß dieses Zeitungs­blatt nicht wir aus­ge­sucht hat­ten, son­dern Gott.

Eine Meinung zu “Die schönste Weihnachtsgeschichte

  1. […] die man sich zu Gemüte führen und Fam­i­lie und Fre­un­den vor­lesen kann. Nach der vielle­icht «schön­sten Wei­h­nachts­geschichte» von Bert Brecht ist diese hier in gewis­sem Sinn die ulti­ma­tive. Sie stammt von Juan José Saer aus […]

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