Adventskalender

Die ultimative Weihnachtsgeschichte

Wie im let­zten Jahr been­den wir die Adventskalen­der­serie auch heuer mit ein­er Wei­h­nachts­geschichte, die man sich zu Gemüte führen und Fam­i­lie und Fre­un­den vor­lesen kann. Nach der vielle­icht «schön­sten Wei­h­nachts­geschichte» von Bert Brecht ist diese hier in gewis­sem Sinn die ulti­ma­tive. Sie stammt von Juan José Saer aus dessen Buch Die Gele­gen­heit. Viel Spaß!

Eine Weihnachtsgeschichte

Bis auf einen, der über die Herde wacht, haben sich die Hirten bei Ein­bruch der Dunkel­heit niedergelegt. Kaum sind sie aber eingeschlafen, da rüt­telt er sie wach und redet mit lauter Stimme, ja schreiend fast und in höch­ster Erre­gung, auf sie ein: «Während ihr geschlafen habt, ist ein Engel gekom­men, um es zu verkün­den, ein König ist in Beth­le­hem geboren, und der Engel hat gesagt, so wie wir die Schafen und Ziegen hüten, wird uns dieser König hüten. Wachet auf, wachet auf, denn wir müssen nach Beth­le­hem ziehen», und die Hirten rap­peln sich hoch, etwas verblüfft, und reiben sich die Augen, unsich­er, ob sie wach sind oder immer noch schlafen, und sie machen sich auf den Weg, tas­tend und stolpernd in der Nacht, dor­thin, wo Beth­le­hem liegt.

Plöt­zlich richtet ein­er von ihnen die Augen gegen den Him­mel, und da ist ein Stern am Fir­ma­ment, der vom Mor­gen­land herzukom­men scheint und der sicht­bar an Größe zunimmt und als einziger unter allen Ster­nen, die reg­los und namen­los ver­har­ren, einem Punkt zus­trebt, der sich, die Hirten sind davon überzeugt, genau über Beth­le­hem befind­et. Und eine Karawane, auf die sie auf ihrem Weg stoßen, beweist ihnen, dass sie sich nicht irren, und als sie etwas schneller gehen, um sie nicht aus ihrem Blick zu ver­lieren, und die Karawane ein­holen, merken sie, dass es drei Könige aus dem Mor­gen­land mit ihrem Gefolge sind, die nach Beth­le­hem ziehen, weil auch ihnen, vom Him­mel herab, ein Engel erschienen ist, wie ein Diener den Hirten erzählt, und den Köni­gen verkün­det hat, dass eben­so, wie sie über ihre Völk­er herrschen, ein Kind, das ger­ade in Beth­le­hem geboren ist, über sie herrschen wird, König sein wird aller Könige. Und die Hirten schließen sich dem Zug an.

Der große, leuch­t­ende Stern, der über den Him­mel wan­dert, anders als die übri­gen Sterne, die im Ver­gle­ich zu ihm blass wirken, reg­los und fremd, geleit­et sie sich­er nach Beth­le­hem, und auf ihrem Weg schließen sich viele der Karawane an, viele, die etwas ver­schlafen, ungläu­big, die Augen starr auf den Stern gerichtet, aus den dun­klen Feldern her­beiströ­men, Men­schen, die sich mit immer gerin­geren Kräften in ihrem All­t­ag zu behaupten ver­suchen, die hofften, dass ein Ereig­nis, eine Erschei­n­ung sie endlich aus diesem grauen Netz befreie, Bauern, Edelleute, Frauen, Män­ner, all jene, die sich schwäch­er fühlen als ihre Ver­brechen oder ihre Hoff­nun­gen, die Schlaf suchen und nichts als Alp­träume find­en, denen unter der Sonne nichts bleibt als Hunger, Leid oder Wahn, die endlich wis­sen möcht­en, ob ihr Dasein auf diesen steini­gen, weißen, während des Tags glühend­heißen Wegen dem Zufall fol­gt oder einem Ruf. Es ist ein Bauer, ein Bauer, der ger­ade in Beth­le­hem geboren ist, flüstern untere­inan­der die Bauern, denn so wie wir die Erde pflü­gen, wird er uns pflü­gen, bis aus uns etwas sprießt, das grün­er ist als die Nacht und der Klein­mut. Dann bleibt der Stern, der noch etwas wächst, sich noch mehr von den anderen, fer­nen und trüben, abhebt, über Beth­le­hem stehen.

Einen Augen­blick lang zögerte die Karawane, denn weil das ganze Dorf schläft, wis­sen wed­er die Könige noch die Bauern und Hirten, wohin sie sich wen­den sollen. Der Stern scheint mit seinem bläulichen Glitzern auf einen Stall hinzuweisen, so dass sie nach kurz­er Betra­ch­tung auf ihn zuge­hen, voran die Könige, die alte, wack­lige Tür auf­s­toßen und ein­treten. Sie kön­nen in der Dunkel­heit fast nichts erken­nen, so dass sie eine Fack­el entzün­den und zwis­chen den flack­ern­den, ein wenig ver­schwomme­nen Schat­ten der Flamme durch den Stall gehen, der bis auf ver­staubtes, zweifel­los nicht benutztes Sat­telzeug und dem ver­fault­en und vertrock­neten Stroh auf dem Boden offen­sichtlich leer ist.

Ein Gemurmel durch­läuft die erwartungsvolle Schar, wie eine unentschlossene Welle, drei Wörter, die ein paar nicht gle­ich ver­ste­hen und die deshalb mehrmals wieder­holt wer­den müssen, leise und ent­täuscht oder verza­gt: «Es ist leer. Was? Leer, es scheint, dass es leer ist.» «Vielle­icht haben wir uns im Stall geir­rt», sagen einige, «oder wir haben das Zeichen des Sterns falsch gedeutet, der nur auf Beth­le­hem gezeigt hat und nicht auf einen Stall im beson­deren, diesen Stall hier, oder vielmehr hat der Stern, in sein­er all­ge­meinen, unmen­schlichen Sprache, als er auf den Stall wies, nicht diesen Stall gemeint, son­dern irgen­deinen Stall, damit Könige, Bauern und Hirten dank dieses Hin­weis­es den wahren Stall suchen kön­nen, den einzi­gen, vorherbes­timmten, den der König der Könige, der Bauer der Bauern, der Hirte der Hirten schließlich zum Ort sein­er Erschei­n­ung gewählt hat.»

Und so ver­lassen sie diesen all­ge­meinen Stall, ein­fach­es, abstrak­tes Zeichen des wahren, und durch­streifen das schlafende Dorf. Sie teilen sich in mehrere Grup­pen auf und begin­nen, mit jedem Mal erwartungsvoller, unruhiger und ori­en­tierungslos­er und mit stets wach­sender Erre­gung, den Stall zu suchen. Die Stille des Dorfs füllt sich mit Stim­men, mit Rufen, und im tanzen­den Licht der Fack­eln teilt sich der Zug in Grup­pen auf, die durch die steini­gen Gassen ziehen und ungestüm, manch­mal mit Gewalt, die Stalltüren auf­s­toßen. Die Bewohn­er Beth­le­hems erwachen und laufen aus den Häusern: «Was soll dieser Lärm, dieser Aufruhr?» fra­gen sie sich, bis sie auf die Könige stoßen, die mit ein­er Schar ander­er Pil­ger, und ohne sich um die Bewohn­er zu küm­mern, eine Stalltür auf­brechen, hin­ter der sich nur zwei oder drei friedlich dösende Rinder befind­en. «Wir sind Könige aus dem Mor­gen­land», erk­lären die Könige den über­rascht­en Bewohn­ern, «und sind diesem Stern bis Beth­le­hem gefol­gt, denn mit seinem Glitzern zeigt er uns, dass in diesem Stall ger­ade ein König geboren ist, dessen Unter­ta­nen wir, die Könige, sind, ein Hirte, der Tag und Nacht die Hirten hüten wird.»

Die Ort­san­säs­si­gen brechen in schal­len­des Gelächter aus. Wer mag ihnen dieses Märchen erzählt haben? Hier im Dorf sei nie­mand geboren wor­den, sie kön­nten sich ruhig umhören, hier sei keine Geburt reg­istri­ert wor­den, schon seit vie­len Wochen nicht, übri­gens auch kein Todes­fall. Und sie, die Ein­wohn­er Beth­le­hems, kön­nten das beweisen, falls den Frem­den ihr Wort nicht genü­gen sollte: erst gestern habe auf Befehl von Cyrenäus, dem Statthal­ter von Syrien, der sein­er­seits Befehlen von Augus­tus Cae­sar nachkam, eine Volk­szäh­lung stattge­fun­den, eine sta­tis­tis­che Erhe­bung, und alle Bewohn­er des Dor­fes seien verze­ich­net, gezählt und wieder gezählt wor­den, und es sei genau die vorherge­sagte Zahl gewe­sen, nie­mand sei geboren wor­den oder gestor­ben, seit die Anord­nung zur Erhe­bung gekom­men sei, nie­mand habe sich der Zäh­lung ent­zo­gen, alle seien sie erfasst worden.

Die Ein­wohn­er Beth­le­hems, die trotz der vie­len Frem­den ihre Ruhe nicht ver­lieren, heben den Kopf und betra­cht­en den Him­mel: tat­säch­lich der Stern sei groß, größer als son­st, aber so über­mäßig groß sei er auch wieder nicht. Schon in Baby­lonien und Chaldäa habe es eine ern­stzunehmende Him­mel­skunde gegeben, und die Astronomen hät­ten wed­er den Glanz noch den Gang, noch die Größe der Gestirne als ein Him­mel­sze­ichen gedeutet. Und über­haupt scheinen ihnen, den Bewohn­ern von Beth­le­hem, die zum Glück einen wolken­losen Him­mel über sich hät­ten (ein Glück, das denen im Mor­gen­land vielle­icht fehle), das Glitzern des Sterns, der in dieser Nacht wirk­lich sehr stark leuchte, nicht auf etwas hinzuweisen, auf keinen Stall im beson­deren, nicht ein­mal auf Beth­le­hem, und es sei angesichts der Höhe des Sterns allzu ver­we­gen, das Gegen­teil zu behaupten. Nein, nein, was sie als Verkündi­gung ange­se­hen hät­ten, sei ein Einzelfall, die Erschei­n­ung eines Engels, der zu den Köni­gen der Hirten gesprochen habe, nichts weit­er als ein ein Traum, gewiss ein angenehmer, aber eben­so wenig wirk­lich wie ein Trug­bild, und das Anwach­sen, die Leuchtkraft und der Lauf des Sterns, ger­ade über dem Weg und den Gegen­den, in denen sie sich befan­den, sei rein­er Zufall gewe­sen. «Sehen Sie nur, weil es gegen Mor­gen geht, wird er auch schon blass­er. Noch merkt man es kaum, aber bald wird es deut­lich zu erken­nen sein, spätestens im Morgengrauen.»

Die Könige, Hirten und Bauern, die eng aneinan­derge­drängt fas­sungs­los einen Augen­blick lang in den Him­mel star­ren, lassen sich nicht überzeu­gen. Die Dorf­be­wohn­er belächeln sie ins­ge­heim: «Bauern, typ­isch, Hirten und die Könige kom­men aus dem Mor­gen­land, wo die Leute sich gern einen Bären auf­binden lassen, ein wenig rück­ständig halt; sie haben einen ver­lore­nen Blick, und wenn sie auch etwas beschränkt sind, scheinen sie nichts Bös­es im Schilde zu führen: Lassen wir sie in alle Ställe schauen, damit sie sich selb­st überzeu­gen können.»

Und so geschieht es auch. Mit etwas selb­st­ge­fäl­ligem Groß­mut und allzu the­atralis­ch­er Zurschaustel­lung ihrer Ein­willi­gung öff­nen die Bewohn­er von Beth­le­hem den Frem­den nicht nur die Türen zu allen Ställen, son­dern auch die zu allen Her­ber­gen und sog­ar zu ihren eige­nen Häusern, zeigen ihnen jedes Zim­mer, deck­en jeden Säugling ab, der in den let­zten Monat­en geboren wurde, und nehmen den ein oder anderen hoch, damit ihn auch alle sehen kön­nen, als Beweis, das unter den Kindern kein Neuge­borenes ist, keins, das auf der Stirn das Mal eines Auser­wählten trägt, das mehr wäre als ein Balg von Händlern, Handw­erk­ern oder Steuere­in­treibern, bis die Frem­den sich überzeu­gen lassen und wieder ins Freie treten, wo die Nacht langsam verblasst.

«Suchen Sie ruhig, wo sie wollen», sagen die Ein­wohn­er, ehe sie schlafen gehen, «da haben Sie die Schlüs­sel, schauen Sie sich in den Häusern der Umge­bung um, in den Nach­bars­dör­fern, sagen Sie, wir haben Sie geschickt, und alle Türen wer­den ihnen aufge­tan.» Als die Frem­den allein sind, ist die Luft fahl und kalt; sie heben den Kopf und sehen, dass der Stern ver­schwun­den ist, seinen Platz unter den anderen, den blassen, fer­nen, eisig blink­enden ein­genom­men hat und dass er sich nicht mehr aus­machen lässt unter den vie­len ver­schwomme­nen glitzern­den Punk­ten, die das Mondlicht auszulöschen beginnt.

Wort­los zer­streuen sie sich, die Bauern, um das Land zu bestellen, ehe die Sonne aus­dör­rt, die Hirten, um ihre Her­den wiederzufind­en, die bei etwas Glück geduldig und ergeben auf sie warten, die Könige, um sich samt ihren unnützen Geschenken auf den Rück­weg zu machen. In der aschgrauen Luft sind ihre Gesichter kaum zu sehen, vor den aschgrauen Steinen, die die Sonne, die gle­ichgültig und gle­ich­mäßig steigt, bald weiß ver­fär­ben wird, wenn sie zu glühen begin­nt, auch sie das flüchtige Ergeb­nis ander­er, nicht min­der neu­traler und vergänglich­er Zufälle.

Aus: Juan José Saer – Die Gele­gen­heit. (Aus dem argen­tinis­chen Spanisch von Erich Hackl. Berlin: Wagen­bach 2010, S. 46–51; Orig­i­nal: La ocasión, 1988) [geän­dert habe ich die Absatz­marken, um den Text etwas inter­net-lese­fre­undlich­er zu gestalten].

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