EU, wie schön ist Lissabon
Soeben durfte sich der polnische Präsident Lech Kaczyński noch einmal richtig wichtig fühlen. José Barroso, der frisch-wiedergewählte EU-Kommissionspräsident war da und der amtierende EU-Ratspräsident Fredrik Reinfeldt war angereist, um sich anzuschauen, wie der hübschere der beiden Zwillinge seine Unterschrift in bütten-weißem Papier vergrub. Eine Woche ist es her, dass auch die Iren endlich “Yea” gesagt haben. Beim ersten “Nay” hatten sie die Frage anscheinend nicht richtig verstanden. Gnädigerweise wurde daher noch einmal gründlich aufgeklärt und jeder irischen Zeitung ein 16-seitiges PropagandaInfo-Blättchen beigelegt.
Nun wird es nicht mehr lange dauern, bis sich auch Tschiens Präsident Václav Klaus zu einer Unterschrift wird überreden lassen. Den Preis dazu hat er jetzt genannt: Der Präsident möchte eine Zusatzprotokoll, Betreff: Besitzansprüche Vertriebener. Es kann lospokert werden. Und wenn Angela Merkel mit ihrer Partei-Freundin Erika Steinbach zur Zeit keine neuen geschichtsverklitternden Gedenkstätten oder ähnliches plant, bekommt der Klaus allem Anschein nach auch seine Extrawurst, die Iren haben schließlich auch ihr Recht auf Nicht-Abtreibung bekommen.
Der Lissabonner EU-Vertrag wird also in Kraft treten. Als überzeugter Befürworter einer europäischen Einigung, ach was, als überzeugter Internationalist sollte ich folglich aus dem Häuschen sein und — wie eben die Moderatorin im Deutschlandfunk es ihrem Gesprächspartner bei Eintreffen der Eilmeldung vorschlug — die Korken knallen lassen und auf den geschlossenen Vertrag anstoßen. Das tschechische Verfassungsgericht wird schon nichts unanständiges machen. Und wenn schon! Solange es nicht Frankreich ist oder ein anderes wichtiges Land.
Erst ein paar Jahre zuvor hatte man nach dem “Non” bzw. “Nee” der Franzosen und Niederländer den ohnehin schwer verständlichen EU-Verfassungsvertrag noch bis zur Unleserlichkeit umgeschrieben. Als vermeintliche Konzession an den demokratischen Volkeswillen in diesen Ländern sozusagen. Der symbolträchtige Bezug auf eine gemeinsame Hymne und die Europa-Flagge wurde aus Rücksicht auf die europäische Nationalisten gestrichen. Und immerhin ward auch die Kritik von Links nicht überhört und der Passus vom “Binnenmarkt mit freiem und unverfälschten Wettbewerb” — also die faktisch verfassungsrechtliche Festsschreibung der neoliberalen Wirtschaftsordung — wurde ebenfalls gestrichen.
Gestrichen, um selbstverständlich an anderer Stelle wieder aufzutauchen. Per copy & paste kam der besagte Passus ins “Protokoll über den Binnenmarkt und Wettbewerb”. Und weil das besagte Protokoll eindeutig Bestandteil des Unionsrechts ist und entsprechend verbindlich, ist auch der verpflichtende “Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb” unverändert geblieben. Da wird schon keiner gucken, werden sie sich gedacht haben. Und weil das so geschickt ist, wurde beinahe der gesamte Vertrag in Zusatzprotokolle, Fußnoten und Anhänge verfrachtet. Die Parlamentarier bekamen nur den Vertragstext — eine Ansammlung von Verweisen — zur Abstimmung vorgelegt. Die (volks-)abstimmungsberechtigten Bürger wurden zur Sicherheit erst gar nicht gefragt. In Deutschland sowieso nicht — aus historischer Verantwortung und so — und in Frankreich aus Feigheit nicht; nur in Irland stand das dummerweise in der Verfassung, da ließ man halt zwei Mal abstimmen.
Die “Detail-Verbesserungen” im neuen EU-Vertragswerk sind leider nicht viel mehr wert, als die in Millionen-Auflage gedruckter Exemplare der nunmehr veralteten Verfassungsverträge. Der tatsächlich lobenswerte Grundrechteteil wurde herausgenommen und ausgelagert. Auf eine andere Weise als der Binnenmarktteil freilich. So ist die Reichweite der Grundrechte aus der Charta selbst nicht mehr ersichtlich. Es wird nur noch allgemein auf die Europäische Menschenrechtskonvention verwiesen, was zur Folge hat, dass die Grundrechte-Charta durch simple Proklamation einer einzelnen Regierung innerhalb der EU außer Kraft gesetzt werden kann — und das sogar für einzelne Territorien!
Ein weiteres Problem der Externalisierung eines solch wichtigen Projekts stellt der Verfassungsrechtler Schachtschneider in einem Interview mit (ähem…) Focus Money dar:
Die Grundrechtecharta ermöglicht ausdrücklich in den aufgenommenen „Erläuterungen“ und deren „Negativdefinitionen“ zu den Grundrechten, entgegen der durch das Menschenwürdeprinzip gebotenen Abschaffung der Todesstrafe in Deutschland (Art. 102 GG), Österreich und anderswo, die Wiedereinführung der Todesstrafe im Kriegsfall oder bei unmittelbar drohender Kriegsgefahr, aber auch die Tötung von Menschen, um einen Aufstand oder einen Aufruhr niederzuschlagen.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Europäische Integration und Erweiterung unbedingt — aber geiler!
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