Film und Zuckerhut
Das „Festival do Rio“ gilt als das größte Filmfestival Lateinamerikas. Vom 23. September bis 7. Oktober wurden in 15 Sektionen mehr als 300 Filme vorgestellt. 17 Lang- und 21 Kurzfilme aus Brasilien konkurrierten beim Publikum um die Auszeichnung als bester Film. Mit der Verleihung der „Troféu Redentor“ geht das „Festival do Rio 2010“ nun zu Ende.
Mit allein fünf Auszeichnung in den wichtigsten Kategorien (Bester Film, Bester Schnitt, Bester Schauspieler, Beste weibliche und männliche Nebenrolle) steht auch ein klarer Gewinner fest: VIPs von Toniko Melo.
Produziert von City of God-Regisseur Fernando Meirelles und mit The Elite Squad-Darsteller Wagner Moura in der Hauptrolle ist die Entscheidung allerdings keine große Überraschung. Der Film erzählt Catch-Me-If-You-Can-artig die (beinahe) wahre Geschichte des Betrügers Marcelo Nascimento da Rocha, der sich durch sämtliche Gesellschaftsschichten Brasilien trickste, bis seine eigene Überheblichkeit ihn schlussendlich auffliegen ließ. Rasant geschnitten, schön fotografiert und schlüssig umgesetzt bringt VIPs das Kunststück fertig, gleichzeitig kurzweilig amüsant und in seiner Vorhersehbarkeit unglaublich langweilig zu sein.
Sehr viel interessanter war da die Sektion „Foco Argentina“, deren Fokus auf dem Nachbarland Argentinien liegt. Santiago Loza und Ivan Fund demonstrieren mit Los labios eindrucksvoll, wie sehr sich das argentinische sozial-realistische Kino von dem lateinamerikanischer Großproduktionen emanzipiert hat. In dieser Erzählung von drei Frauen, die im Rahmen einer Regierungsinitiative aufs Land geschickt werden, um dort einfache medizinische Hilfe zu leisten, finden sich die Protagonistinnen schließlich in einer Krankenhausruine wieder – auf sich allein gestellt, jede mit ihren Sorgen, Ängsten und Bedürfnissen. Die Bilder wirken dabei so real, dass wir uns als Zuschauer ständig die Frage stellen: Doku oder Fiktion? Valeska Griesbach (Sehnsucht) und die „Berliner Schule“ scheinen auf einmal näher als Fernando Meirelles (s.o.) und brasilianische Studioproduktionen.
Doch auch der brasilianische Markt hat mitunter Realität zu bieten. Camponeses do Araguaia – A Guerrilha vista por dentro lief in der Reihe „Première Brasil Politica“ und hatte seine Premiere pikanterweise im Kulturzentrum des Bundesgerichts (CCJF). Vandré Fernandes beschreibt in dieser Doku das Unrecht, das den Bauern eines entlegenen Dorfs am Amazonas-Fluss Araguaia während der brasilianischen Militärdiktatur widerfahren ist. Zwischen 1972 und 1974 wohnte eine Gruppe kommunistischer Guerillakämpfer unter ihnen, weshalb die damaligen Machthaber ein ganzes Dorf unter Generalverdacht nahmen. Menschen wurden verschleppt, gefoltert und verschwanden. Ein bisher sehr dürftig behandeltes Kapitel der jüngeren brasilianischen Geschichte, das hier filmisch zwar leider nicht besonders, anhand von Zeitzeugen dafür um so mitreißender erzählt wird.
Zona Sur von Juan Carlos Valdivia spielt im reichen Süden der sich im gesellschaftlichen Umbruch befindenden bolivianischen Hauptstadt La Paz und dreht sich um das Leben einer weißen Familie und ihrer indigenen Angestellten. Dieses wortwörtliche Drehen hat Kameramann Paul de Lumen wundervoll in schier unendlichen 360 Grad-Plansequenzen eingefangen. Allmählich verwandelt es sich allerdings zu einem Strudel, in dem die aristokratische Dekadenz der bolivianischen Oberschicht nach und nach Opfer der Fliehkraft wird und ganz allmähliche ihre gewohnten Privilegien verliert. Allegorisch, subtil, großartig.
In der Reihe „O Brasil do Otro“ in der Nicht-Brasilianer ihre filmische Vision Brasiliens präsentieren, zeigt uns Mário Patrocinio mit Complexo: Universo Paralelo, wie es ist, im größten und gefährlichsten Favela-Konglomerat Rios zu leben: dem Complexo Alemão. Dabei schrammt der gebürtige Portugiese oftmals knapp am Klischee vorbei, das ein Gringo von Favela haben kann, liefert aber beeindruckende Zeugnisse von Anwohnern – bewaffneten und unbewaffneten.
Auch in Rio de Janeiro wohnen die Reichen im Süden der Stadt – in der Zone Sul. Dort findet sich auch ein Großteil der Festival-Kinos. Und dort kauft sich der geneigte und gut betuchte Filmfan ein Festival-Pass für 305 R$ (ca. 130 €), mit dem er dann 50 Filme sehen darf. (Wir Journalisten haben nur das Recht auf 15 Filme und kommen auch erst ins Kino, wenn es nicht ausverkauft ist.) Einerseits lässt sich diese Festival-Politik leicht als kapitalistisch-gewinnmaximierend brandmarken, andererseits kann man es auch als irgendwie demokratisch-populär loben.
Zur Verteidigung des Festivals, ließe sich auf die Initiative „Cinema Livre“ hinweisen, die parallel zum Festival ein kostenloses Open-Air-Kino in verschiedenen Comunidades des Stadt installiert, was eher auf ein integratives Verständnis der Veranstalter hinweist. Andererseits lässt das Angebot (High School Musical und Xuxa) dieser Initiative vermuten, dass dem gemeinen Film-Volk auch nicht sehr viel anspruchsvolles zugemutet wird.
Bemerkenswert ist, dass in Brasilien wahrscheinlich kein kulturelles Event existiert, das nicht von der überpräsenten staatlichen Ölfirma Petrobras unterstützt wird. Dass der Preis für das beste Product Placement (sic!) ausgerechnet an Brahma geht, deren Besitzer AmBev ebenfalls Hauptsponsor des Filmfestivals ist, mag da nur als kurioses Detail anmuten. Einen Preis dafür zu vergeben, dass eine Bierflasche in einem von jungen Favela-Bewohnern gedrehten Film (5x Favela, Agora Por Nos Mesmos) eine herausragende Rolle spielt, ist jedoch schon beinahe makaber.
Widersprüchlichkeit scheint sowohl das Festival wie den Kontinent auszumachen – so gesehen ist der kurzweilig-langweilige Festivalgewinner ein wahrhaft passender Stellvertreter.
Interessanter Eintrag!
Dankeschön!