Fotografischer Adventskalender 14 (Sander, 1930)
Das Schwarz-Weiß-Foto „Blinde Kinder beim Unterricht” um 1930 von August Sander (geb. 1876 in Herdorf an der Heller, gest. 1964 in Köln) stammt aus dem Werk „Menschen des 20. Jahrhunderts”, welches ein weites Spektrum von Künstlerportraits und den damaligen Gesellschafts- und Berufsgruppen mit scharfer Beobachtungsgabe und psychologischem Einfühlungsvermögen auf rund 600 Aufnahmen festhält. Als der Fotograf in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts begann, an einer umfangreichen Porträtserie zu arbeiten, konnte er nicht ahnen, daß ihn dieses Projekt sein ganzes Leben lang beschäftigen würde. Doch trotz aller Anstrengungen, zum Abschluß konnte er es nicht bringen: “Menschen des 20. Jahrhunderts” blieb ein unvollendetes Werk. Das Portraitwerk, für das Sanders Konzept sieben Gruppen mit insgesamt über 45 Bildmappen vorsah, die sich inhaltlich an den verschiedenen Gesellschafts- und Berufsgruppen orientieren, wird unter den vom Fotografen vergebenen Gruppentiteln in seiner ganzen Bandbreite gezeigt: Der Bauer, Der Handwerker, Die Frau, Die Stände, Die Künstler, Die Großstadt und Die letzten Menschen – eine Gruppe, die an anderer Stelle von Sander als Alter, Krankheit und Tod bezeichnet wurde und damit die Bedeutung der Aufnahmen nochmals klarer fasst.
Aus jenem letzten Band stammt das Bild der drei blinden Mädchen. Sander spielt hier mit einem Absurdum. Ein visuelles Medium bildet blinde Kinder ab, welche keinen Zugang zu diesem Erfahrungsschatz bzw. Kommunikationsmedium haben und nie haben werden. Wäre nicht das Hinweisschild an der Fassade, so würden wir wie die blinden Kinder die Wasseranlage höchstwahrscheinlich nicht sehen bzw. erkennen. Nur durch das Sehen des Schildes haben wir die Information, dass sich diese 55 cm von der Fassade entfernt befindet. Hier wird uns „vor Augen geführt”, was diesen Kindern vorenthalten bleibt.
Durch das Sehen der Kleider sind wir in der Lage, den Unterschied der Gesellschaftsschichten zu erkennen. Wir können keine Bücher in Braille lesen, doch alleine durch das Sehen der Bücher können wir vermuten, dass das blinde Mädchen in der Mitte ein wahrscheinlich anspruchsvolleres Buch als die beiden anderen „liest”, da dieses vom Format kleiner, aber dicker ist und dies unseren sehenden Erfahrungen von Büchern entspricht. Durch die Bildgestaltung werden unsere Blicke auf das Mädchen aus der oberen Gesellschaftsschicht gelenkt. Sie steht „positiver” im Lichte. Die gehobene Kopfhaltung und ihre Augen auf der Höhe der Hinterköpfe der anderen symbolisieren ihren höheren Bildungsgrad. Gerade in den 30er Jahren gab es enorme gesellschaftliche Unterschiede, und wie in diesem Bild waren diese allein durch das Sehen erkennbar. Diese Mädchen haben durch ihre Behinderung keinen Zugang zu diesem Erkennungsmerkmal. Wir als Sehende sind oft durch das Schauen von Vorurteilen geprägt: eine Behinderung, von der die blinden Kinder nicht betroffen sind.
Dem Wesen und Werden der Fotografie hatte August Sander in seiner insgesamt rund 70jährigen Tätigkeit beinahe in jeder Beziehung – sei es hinsichtlich der Technik, der Wahl oder Komposition eines Motivs oder in Bezug auf die Verwendung und Kontextgebung – nachgeforscht. Sein Werk zeugt von einer tiefen Auseinandersetzung, die den Fotographen zu einer klar definierten Form im Umgang mit seinem Medium führte, die er als exakte Fotografie zu bezeichnen pflegte, deren Ursprung in den Anfängen der Fotografie liegt und in absoluter Naturtreue ein Bild seiner Zeit zu geben sucht. Mehr noch sollte daraus resultieren: ein einzigartiges Werk von weitreichender kunst- und kulturhistorischer Dimension mit Vorbildfunktion, wie wir iim weiteren Verlauf des Adventskalenders noch sehen werden.
Die weltweit größte Sammlung zum Werk des 1964 in Köln verstorbenen Fotografen befindet sich heute mit unter anderem über 4.500 Originalabzügen und rund 11.000 Originalnegativen in der Fotografischen Sammlung der Kulturstiftung der Stadtsparkasse Köln und wird der Öffentlichkeit kontinuierlich in Form von Publikationen und Ausstellungen vorgestellt.