Fotografischer Adventskalender 14 (Sander, 1930)


Das Schwarz-Weiß-Foto „Blinde Kinder beim Unter­richt” um 1930 von August Sander (geb. 1876 in Her­dorf an der Heller, gest. 1964 in Köln) stammt aus dem Werk „Men­schen des 20. Jahrhun­derts”, welch­es ein weites Spek­trum von Kün­stler­por­traits und den dama­li­gen Gesellschafts- und Beruf­s­grup­pen mit schar­fer Beobach­tungs­gabe und psy­chol­o­gis­chem Ein­füh­lungsver­mö­gen auf rund 600 Auf­nah­men fes­thält. Als der Fotograf in den 20er Jahren des vorigen Jahrhun­derts begann, an ein­er umfan­gre­ichen Porträt­serie zu arbeit­en, kon­nte er nicht ahnen, daß ihn dieses Pro­jekt sein ganzes Leben lang beschäfti­gen würde. Doch trotz aller Anstren­gun­gen, zum Abschluß kon­nte er es nicht brin­gen: “Men­schen des 20. Jahrhun­derts” blieb ein unvol­len­detes Werk. Das Por­traitwerk, für das Sanders Konzept sieben Grup­pen mit ins­ge­samt über 45 Bildmap­pen vor­sah, die sich inhaltlich an den ver­schiede­nen Gesellschafts- und Beruf­s­grup­pen ori­en­tieren, wird unter den vom Fotografen vergebe­nen Grup­pen­titeln in sein­er ganzen Band­bre­ite gezeigt: Der Bauer, Der Handw­erk­er, Die Frau, Die Stände, Die Kün­stler, Die Großs­tadt und Die let­zten Men­schen – eine Gruppe, die an ander­er Stelle von Sander als Alter, Krankheit und Tod beze­ich­net wurde und damit die Bedeu­tung der Auf­nah­men nochmals klar­er fasst. Weit­er­lesen

Fotografischer Adventskalender 13 (Thormann, 1929)

Ernst Thor­mann ist ein­er der wichtig­sten Vertreter der Sozialen (oder «sozial­doku­men­tarischen») Fotografie der 1920er Jahre in Deutsch­land. Anders als bei der Kun­st­fo­tografie geht es hier nicht um ästhetis­che Gestal­tungskri­te­rien oder die Explo­ration expres­siv­er Aus­drucksmit­tel, son­dern um das Poten­zial der Fotografie, soziale Real­ität aufzudeck­en und von ihr Zeug­nis abzule­gen. Der Titel des Bildes «Nach dem Markt. Leere Kar­tons zum Heizen» ver­mit­telt klar diese Inten­tion. Die Fotografie wird so zur Kom­mu­nika­tion von und Kri­tik an der Lebenswirk­lichkeit unter­priv­i­legiert­er Schicht­en in der Weimar­er Repub­lik. Thor­mann ist selb­st ein Kind der Arbeit­erk­lasse, wird 1905 in Bres­lau als Sohn eines Schrift­set­zers geboren und nach einem Umzug der Fam­i­lie nach Berlin-Neukölln 1917/18 wegen Unter­ernährung für vier Wochen nach Däne­mark geschickt. Vor dem Hin­ter­grund der Tat­sache, dass Thor­mann später überzeugter und parteilich organ­isiert­er Kom­mu­nist wird, lesen sich seine Fotografien als Teil seines poli­tis­chen Engage­ments. Mehr zu sein­er Biografie find­et sich hier.

Fotografischer Adventskalender 12 (Atget, 1927)

Eugène Atgets Werk wird wegen zwei wider­stre­i­t­en­der Ten­den­zen geschätzt: Neben der doku­men­tarischen Qual­ität sein­er Fotografien, auf­grund der­er er als Porträtist des Paris sein­er Zeit gilt, find­et sich in vie­len sein­er Bilder ein über diese hin­aus weisender Zug ins Sur­reale, der auch in diesem Foto sehr schön zum Aus­druck kommt. Eine wichtige foto­his­torische Ref­erenz wurde Atget nicht zulet­zt durch Wal­ter Ben­jamins Kleine Geschichte der Pho­togra­phie, in der Atgets Paris-Fotos für eine „Befreiung des Objek­ts von der Aura“ stehen.

Fotografischer Adventskalender 11 (Perscheid, 1914)

Nico­la Per­scheid wird manch­mal in einem Atemzug mit der Kun­st­fo­tografie Kühns genan­nt. Beson­ders in seinen frühen Fotografien um 1900 lässt sich tat­säch­lich eine Ähn­lichkeit erken­nen. Sehr schön finde ich die mys­tisch-mor­bide Atmo­sphäre dieses Fotos, das aus einem Film von Vic­tor Sjöström oder Carl Theodor Drey­er stam­men kön­nte. Per­scheid war aber auch ein­er der ersten pro­fes­sionellen Porträt­fo­tografen in Deutsch­land und wurde für die «Wahrung des Eige­nar­ti­gen, Per­sön­lichen des Men­schen» geschätzt. Hier zu sehen ist der Dra­matik­er Ger­hart Haupt­mann, dessen «Nat­u­ral­is­tis­ches The­ater» wiederum einiges mit der sozialdemokratdoku­men­tarischen Fotografie gemein hat, auf die wir noch zu sprechen kom­men wer­den, wenn sich in den näch­sten Tagen weit­ere Türchen unseres fotografis­chen Adventskalen­ders öffnen.

Fotografischer Adventskalender 10 (Kühn, 1910)

Obwohl ja schon diverse ältere Fotografien in unserem Adventskalen­der eine starke kün­st­lerische Gestal­tung aufwiesen, hat sich die «Kun­st­fo­tografie» als ste­hen­der Begriff erst im aus­ge­hen­den 19. Jahrhun­dert durchge­set­zt. Es ist kein Zufall, dass sich die damit in Zusam­men­hang ste­hen­den Bilder von Hein­rich Kühn stark an eine Ästhetik der Malerei anlehnen. Ihren Kunst­wert — ihre Legit­i­ma­tion als Kun­st — beziehen sie aus ein­er Anschmiegung an Bildgestal­tungskonzepte, die aus dem Impres­sion­is­mus stam­men. Tat­säch­lich erin­nern manche Fotos von Kühn bis in die Motivik hinein an Gemälde von Mon­et und anderen Impres­sion­is­ten. Selt­sam antizip­iert die Kun­st­fo­tografie Kühns, die ihre stilis­tis­chen Para­me­ter der Malerei entlehnt, den Foto­re­al­is­mus, der jene Geste im späten 20. Jahrhun­dert — und damit unter ein­er kom­plett verän­derten kun­st­diskur­siv­en Kon­fig­u­ra­tion — umdreht und die Fotografie zum Maß des Gemal­ten wer­den lässt.

[Die abge­bildete Fotografie ist nicht datiert; bei der Jahre­sangabe han­delt es sich um (m)einen Schätzwert.]