
Das Schwarz-Weiß-Foto „Blinde Kinder beim Unterricht” um 1930 von August Sander (geb. 1876 in Herdorf an der Heller, gest. 1964 in Köln) stammt aus dem Werk „Menschen des 20. Jahrhunderts”, welches ein weites Spektrum von Künstlerportraits und den damaligen Gesellschafts- und Berufsgruppen mit scharfer Beobachtungsgabe und psychologischem Einfühlungsvermögen auf rund 600 Aufnahmen festhält. Als der Fotograf in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts begann, an einer umfangreichen Porträtserie zu arbeiten, konnte er nicht ahnen, daß ihn dieses Projekt sein ganzes Leben lang beschäftigen würde. Doch trotz aller Anstrengungen, zum Abschluß konnte er es nicht bringen: “Menschen des 20. Jahrhunderts” blieb ein unvollendetes Werk. Das Portraitwerk, für das Sanders Konzept sieben Gruppen mit insgesamt über 45 Bildmappen vorsah, die sich inhaltlich an den verschiedenen Gesellschafts- und Berufsgruppen orientieren, wird unter den vom Fotografen vergebenen Gruppentiteln in seiner ganzen Bandbreite gezeigt: Der Bauer, Der Handwerker, Die Frau, Die Stände, Die Künstler, Die Großstadt und Die letzten Menschen – eine Gruppe, die an anderer Stelle von Sander als Alter, Krankheit und Tod bezeichnet wurde und damit die Bedeutung der Aufnahmen nochmals klarer fasst. Weiterlesen

Ernst Thormann ist einer der wichtigsten Vertreter der Sozialen (oder «sozialdokumentarischen») Fotografie der 1920er Jahre in Deutschland. Anders als bei der Kunstfotografie geht es hier nicht um ästhetische Gestaltungskriterien oder die Exploration expressiver Ausdrucksmittel, sondern um das Potenzial der Fotografie, soziale Realität aufzudecken und von ihr Zeugnis abzulegen. Der Titel des Bildes «Nach dem Markt. Leere Kartons zum Heizen» vermittelt klar diese Intention. Die Fotografie wird so zur Kommunikation von und Kritik an der Lebenswirklichkeit unterprivilegierter Schichten in der Weimarer Republik. Thormann ist selbst ein Kind der Arbeiterklasse, wird 1905 in Breslau als Sohn eines Schriftsetzers geboren und nach einem Umzug der Familie nach Berlin-Neukölln 1917/18 wegen Unterernährung für vier Wochen nach Dänemark geschickt. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Thormann später überzeugter und parteilich organisierter Kommunist wird, lesen sich seine Fotografien als Teil seines politischen Engagements. Mehr zu seiner Biografie findet sich hier.
Eugène Atgets Werk wird wegen zwei widerstreitender Tendenzen geschätzt: Neben der dokumentarischen Qualität seiner Fotografien, aufgrund derer er als Porträtist des Paris seiner Zeit gilt, findet sich in vielen seiner Bilder ein über diese hinaus weisender Zug ins Surreale, der auch in diesem Foto sehr schön zum Ausdruck kommt. Eine wichtige fotohistorische Referenz wurde Atget nicht zuletzt durch Walter Benjamins Kleine Geschichte der Photographie, in der Atgets Paris-Fotos für eine „Befreiung des Objekts von der Aura“ stehen.

Nicola Perscheid wird manchmal in einem Atemzug mit der Kunstfotografie Kühns genannt. Besonders in seinen frühen Fotografien um 1900 lässt sich tatsächlich eine Ähnlichkeit erkennen. Sehr schön finde ich die mystisch-morbide Atmosphäre dieses Fotos, das aus einem Film von Victor Sjöström oder Carl Theodor Dreyer stammen könnte. Perscheid war aber auch einer der ersten professionellen Porträtfotografen in Deutschland und wurde für die «Wahrung des Eigenartigen, Persönlichen des Menschen» geschätzt. Hier zu sehen ist der Dramatiker Gerhart Hauptmann, dessen «Naturalistisches Theater» wiederum einiges mit der sozialdemokratdokumentarischen Fotografie gemein hat, auf die wir noch zu sprechen kommen werden, wenn sich in den nächsten Tagen weitere Türchen unseres fotografischen Adventskalenders öffnen.

Obwohl ja schon diverse ältere Fotografien in unserem Adventskalender eine starke künstlerische Gestaltung aufwiesen, hat sich die «Kunstfotografie» als stehender Begriff erst im ausgehenden 19. Jahrhundert durchgesetzt. Es ist kein Zufall, dass sich die damit in Zusammenhang stehenden Bilder von Heinrich Kühn stark an eine Ästhetik der Malerei anlehnen. Ihren Kunstwert — ihre Legitimation als Kunst — beziehen sie aus einer Anschmiegung an Bildgestaltungskonzepte, die aus dem Impressionismus stammen. Tatsächlich erinnern manche Fotos von Kühn bis in die Motivik hinein an Gemälde von Monet und anderen Impressionisten. Seltsam antizipiert die Kunstfotografie Kühns, die ihre stilistischen Parameter der Malerei entlehnt, den Fotorealismus, der jene Geste im späten 20. Jahrhundert — und damit unter einer komplett veränderten kunstdiskursiven Konfiguration — umdreht und die Fotografie zum Maß des Gemalten werden lässt.
[Die abgebildete Fotografie ist nicht datiert; bei der Jahresangabe handelt es sich um (m)einen Schätzwert.]