Fotografischer Adventskalender 9 (Darget, 1896)

Die Sen­si­bil­ität der fotografis­chen Plat­te schien den Fotografen des 19. Jahrhun­derts nicht nur geeignet, die äußere Natur dazu zu brin­gen, sich selb­st zu malen. Der Automa­tismus des Appa­rates sollte sog­ar die buried secrets des Innen­lebens dazu zwin­gen, sich selb­st zu Pro­tokoll zu geben. Georges Bara­duc etwa — Psy­chi­ater, Neu­rologe und Gynäkologe an der Salpêtrière — hielt sich selb­st oder seinen Ver­suchsper­so­n­en die bloße fotografis­che Plat­te an die Stirn, ohne Inter­ven­tion durch ein Objek­tiv, um zu möglichst unver­stell­ten Auf­nah­men von unbe­wussten Empfind­un­gen, Gedanken, Visio­nen und «See­len­lichtern» zu gelan­gen. Die automa­tisch hergestell­ten Berührungs­bilder, von Bara­duc auch «Psy­chiko­nen» genan­nt, fan­den Ein­gang in eine ganze Ikono­gra­phie der unsicht­baren Geis­testätigkeit­en – betitelt: L’ame humaine. Ses mou­ve­ment, ses lumières et l’i­cono­gra­phie de l’in­vis­i­ble flu­idique (Paris 1896). Was von Bara­duc als Ikono­gra­phie von See­len­be­we­gun­gen intendiert war, präsen­tiert sich aus heutiger Per­spek­tive als unfrei­willige Klas­si­fika­tion möglich­er Störun­gen durch das Trägermaterial.

Auch Louis Dar­get, Ex-Offizier und – im Unter­schied zu Bara­duc – Gedanken­fo­tograf aus Pri­vatvergnü­gen, war der notorisch opak­en Innen­welt auf der Spur und meinte sog­ar, sub­jek­tive Erleb­nis­ge­halte und men­tale Bilder aufze­ich­nen zu kön­nen: „In den Nebeln und Mustern der Foto­plat­ten entz­if­ferte Dar­get das unmit­tel­bare Abbild des jew­eils Gedacht­en oder Geträumten: Plan­eten und Satel­liten, den Umriß ein­er Flasche oder die schemen­hafte Gestalt eines Adlers, der ihm selb­st eines Nachts im Traum erschienen war“ (Peter Geimer, Bilder aus Verse­hen, S. 160).

Fotografischer Adventskalender 8 (Muybridge 1878)


Vor der Zeit des Ead­weard Muy­bridge wusste kein Men­sch, in welch­er Rei­hen­folge sich die Beine eines tra­ben­den Pfer­des befind­en. Ein für die Men­schheit akutes und äußerst wichtiges Prob­lem wurde erst durch eine Rei­he von Fotografien gelöst, auf denen das Pferd in allen Sta­di­en seines Laufes fest­ge­hal­ten wurde. Doch eine der­ar­tige Rei­he kon­nte selb­stver­ständlich nicht mit einem einzi­gen Appa­rat ereldigt wer­den. Muy­bridge schal­tete erst ein, dann zwei und schließlich drei dutzend Fotoap­pa­rate hin­tere­inan­der, um jede Einzel­be­we­gung des Tiers festzuhal­ten. Die Serielle Fotografie war geboren. Doch ließ sich mit ein­er Rei­hen­fo­tografie wie dieser noch etwas anderes bew­erk­stel­li­gen: Ein fotografis­ches Dau­menk­i­no, dass die Bilder nicht in ein­er über­sichtlichen Tafel präsen­tiert, son­dern hin­tere­inan­der ablaufen lässt.

Ein ewiger Ritt auf der Rennstrecke in Palo Alto, aufgenom­men am 19. Juni 1878. Die Entwick­lung der seriellen Auf­nah­me­tech­nik war nicht nur für die Fotografie rev­o­lu­tionär, son­dern bee­in­flusste die ver­wandten Kün­ste der Malerei und des Films in vielle­icht noch stärk­erem Maße, wie man in Mar­cel Duchamps berühmten “Nude Descend­ing a Stair­case (No. 2)”, das von ein­er Muy­bridgschen Rei­he inspiri­ert wurde, eben­so sehen kann, wie an de mod­er­nen “Bullet-Time”-Technik des Block­busterki­nos der 90er. So haben auch banale Fra­gen, wie die nach der Fußstel­lung des Pfer­des im Trab, unab­se­hbare Auswirkun­gen auf die men­schliche Kultur.

Fotografischer Adventskalender 7 (du Hauron, 1877)

Vor zwei Tagen kon­nten wir ja bere­its die erste Farb­fo­tografie der Welt bewun­dern, heute wollen wir die Entwick­lung der Poly­chromie in der Fotografie weit­er belicht­en beleucht­en. Betra­chtet man unser heutiges Foto, treten an den Rän­dern Über­lap­pun­gen in den Sekundär­farben Rot, Grün und Blau deut­lich her­vor. Das ist allerd­ings kein gewoll­ter kün­st­lerisch­er Effekt, son­dern ein Resul­tat der von Hau­ron 1868 paten­tierten sub­trak­tiv­en Farb­mis­chung, die auch in der mod­er­nen Farb­fo­tografie genutzt wird.

Wikipedia weiß: “Die Erk­lärung beruht auf der Drei­far­ben­the­o­rie und der Tat­sache, dass die Zapfen auf der Net­zhaut des Auges ihre max­i­male Empfind­lichkeit für diejeni­gen Wellen­län­gen-Bere­iche des Lichts haben, denen wir die Farbe­mpfind­un­gen Blau, Grün und Rot zuord­nen: Wer­den in der Anord­nung oben die Farb­fil­ter Gelb, Magen­ta und Cyan mit neu­tral­weißen Licht durch­leuchtet, wer­den durch Absorp­tion kom­ple­men­tär­far­bige Spek­tral­bere­iche her­aus­ge­filtert. Beim gel­ben Fil­ter wird zum Beispiel der blaue Bere­ich absorbiert. Das passierte Spek­trum kann die blauempfind­lichen Zapfen wenig oder kaum anre­gen und wird deshalb vom Auge als Gelb reg­istri­ert. Das gelbe und das cyan­far­bige Fil­ter absorbieren zusam­men den blauen und den roten Bere­ich. Der grüne Bere­ich, für den das Auge einen eige­nen Zapfen­typ besitzt, kann passieren. Wo das magenta­far­bige Fil­ter dazukommt, wird die unbunte Farbe Schwarz wahrgenom­men, denn dieses absorbiert den bish­er noch durchge­lassen grü­nen Bere­ich. Außer­halb der Fil­ter passiert das unbee­in­flusste ursprüngliche Licht und verur­sacht im Auge die Wahrnehmung höch­ster Hel­ligkeit beziehungsweise den Far­bein­druck Weiß. Die Far­ben der Fil­ter, im Bild oben Gelb, Magen­ta und Cyan, wer­den als Primär­far­ben der sub­trak­tiv­en Farb­mis­chung, die erzeugten Far­ben als Sekundär­far­ben, hier Blau, Grün und Rot, bezeichnet.”

Fotografischer Adventskalender 6 (Gardner, 1865)

Ein Bild aus der Serie, die Alexan­der Gard­ner 1865 von Lewis Payne (richtiger Name: Lewis Pow­ell) gemacht hat, der zum Tode verurteilt wor­den war, nach­dem er ver­sucht hat­te, den dama­li­gen US-Außen­min­is­ter W.H. Seward zu ermor­den. Was wir auf dem Bild sehen ist also ein dem Tod Gewei­hter, ein junger Mann, der weiß, dass er bald ster­ben wird. Ein anderes Foto aus der gle­ichen Serie inspiri­erte Roland Barthes in seinem Fotothe­o­rie-Büch­lein Die helle Kam­mer — das Wort­spiel, das der Titel mit «cam­era obscu­ra» treibt, ist in der deutschen Über­set­zung nur zu erah­nen — zur Über­legung zum «neuen punctum» :

Dieses neue punc­tum, nicht mehr eines der Form, son­dern der Dichte, ist die Zeit, ist die erschüt­ternde Emphase des Noe­mas («Es-ist-so-gewe­sen»), seine reine Abbil­dung. […] Ich lese gle­ichzeit­ig: das wird sein und das ist gewe­sen; mit Schreck­en gewahre ich eine vol­len­dete Zukun­ft, deren Ein­satz der Tod ist. Indem die Pho­togra­phie mir die vol­len­dete Ver­gan­gen­heit der Pose (den Aorist) dar­bi­etet, set­zt sie für mich den Tod in die Zukunft.