Koksbedarf für eine Dekade
oder
Wie Beltrame in Rio de Janeiro einen Berg eroberte und nicht mehr herunterkam

Nach­dem BOPE, CORE und all die anderen Polizei-Spezialein­heit­en mit sprechen­den Akro­ny­men, das Mil­itär, die Marine und wer-weiß-wer-noch den zuvor als unein­nehm­bar gel­tenden Com­plexo do Alemão ((Der Com­plexo do Alemão liegt im Nor­den der Stadt und ist ein 3 km2 großer Ver­bund von 13 Fave­las und ca. 80.000 Ein­wohn­ern. Den Namen hat das Gebi­et, weil der erste Pächter, ein Nordes­ti­no mit pol­nis­chen Wurzeln, helle Haut und blonde Haare hat­te. Das Gebi­et wurde bish­er von dem Coman­do Ver­mel­ho kon­trol­liert.)) und die Pen­ha ((Die Pen­ha ist von dem Alemão nur durch einen Hügel getren­nt und umfasst eben­falls mehrere Fave­las, unter anderem die Vila Cruzeiro, in der die Oper­a­tion der Stre­itkräfte began­nen. Eben­falls CV-kon­trol­liert.)) inner­halb von zweiein­halb Tagen beset­zt haben, bere­it­et man sich schon auf die näch­ste Schlacht vor: Rocin­ha und Vidi­gal ((Die Rocin­ha und der Vidi­gal befind­en sich genau in der Mitte des Kor­ri­dors zwis­chen der zu bauen­den Olympiastätte in Bar­ra und Mara­canã-Sta­dion im Nor­den. Jed­er Ver­such diese bei­den Fave­las zu “befrieden” war bish­er an “Indiskre­tion” gescheit­ert. Bis auf ein einziges Mal waren die dort den Dro­gen­han­del kon­trol­lieren­den “Ami­gos dos Ami­gos” bere­its von irgendwelchen kor­rupten Beamten gewahrt wor­den.)) in der Zona Sul. ((Dieser Schlacht ging das erste Tre­f­fen seit 16 Jahren zwis­chen ADA und CV voraus. Ob die ver­meintliche Koop­er­a­tion den Auss­chlag für die schnelle Ein­nahme von Alemão und Pen­ha gab oder umgekehrt die bevorste­hende Oper­a­tion entschei­dend für die Koop­er­a­tion war, ist schw­er zu sagen.)) Das sagt zumin­d­est Rios omnipräsen­ter Min­is­ter für Sicher­heit José Mar­i­ano Beltrame.

Der Min­is­ter, dem man immer­hin zugeste­hen muss, der erste nicht-offen­sichtlich-bestech­liche Polize­ichef Rios zu sein ((Sein Vorgänger Marce­lo Itag­i­ba wurde erst kür­zlich wegen Ver­schwörung verurteilt, weil er Geschäfte mit den Milizen in Rio das Pedras gemacht hat­te. Und Ex-Gou­verneur und Radiomod­er­a­tor Antho­ny Garot­in­ho, war während der Amtspe­ri­ode sein­er Frau, die seine Nach­fol­gerin im Amt als Gou­verneurin war, eben­falls schon Sicher­heitsmin­is­ter, er wurde u.a. wegen Ver­schwörung und “Bil­dung ein­er bewaffneten Vere­ini­gung” verurteilt ist. Bei­den ist es vor­erst unter­sagt auch nur irgend ein poli­tis­ches Amt zu bek­lei­den.)), beze­ich­nete das eroberte Gebi­et in einem Inter­view ein­er Fernse­hansprache auf Globo als “das Herz des Bösen” und lobte die Streikräfte, die mit importiertem Kriegs­gerät und in hun­dert­fach­er Überzahl ein­hun­dert­paarund­vierzig Schw­erver­brech­er fes­t­nah­men, 34 erschossen und sich neben­bei ein Koks- und Graspro­viant für die näch­ste Dekade angelegt haben. Nicht zu schweigen von den unzäh­li­gen und prak­tis­cher­weise auch noch unreg­istri­erten Waf­fen, die sie beschlagnahmt haben und den Milizen im Nor­den und West­en von Rio jet­zt weit­er­verkaufen wer­den. ((Während des CPI von 2008, geleit­et von dem Abge­ord­neten Marce­lo Freixo, wurde öffentlich, dass die zuvor noch schein­heilig als Bürg­er­wehr gedeck­ten bewaffneten Ein­heit­en — die größte von ihnen nen­nt sich “Liga da Justiça” — in Wahrheit von der Poli­tik unter­stützte und von Polizis­ten kon­trol­lierte Milizen sind. Eine gute Zusam­men­fas­sung gibt es hier.)) Der Bedarf bzw. der Waf­fenkon­sumwun­sch dürfte durch die drei Tage dauernde mul­ti­me­di­ale Waf­fen­präsen­ta­tion aller Gat­tun­gen aus­re­ichend geweckt wor­den sein. ((Eine Zusam­men­fas­sung der Ereignisse bietet Globe auf seinem “Nachrichten”-Portal an. Schön mit Video, auf Por­tugiesisch.)) Sehr prak­tisch das. Sich­er nur ein makabre Zufall ist aber, dass zum Zeit­punkt der Erstür­mung von Favela und Mor­ro in Rio ger­ade der Startschuss fiel zum 45. World Mil­i­tary Shoot­ing Championship.

Diese “wichtig­ste und schwierig­ste” Schlacht, so Bel­trames Worte, wird also nicht die let­zte sein. Doch erst ein­mal dür­fen erwäh­nte Polizis­ten und Mil­itärs auss­chlafen. Viele von ihnen sind seit über 72 Stun­den im Dauere­in­satz, was zwar nor­mal ist für brasil­ian­is­che Beamte mit Fre­und-und-Helfer-Syn­drom, aber der Tre­ff­sicher­heit und der ziel­sicheren Fre­und/Feind-Unter­schei­dung nicht beson­ders zuträglich sein dürfte. Bevor die zweite Runde ein­geläutet wer­den kann und weit­er­paz­i­fiziert wer­den darf, müssen erst noch 30.000 Türen im Alemão einge­treten wer­den. Kann ja sein, dass sich da noch jemand ver­steckt und das eine oder andere Tön­nchen Koks unter ein­er durchgele­ge­nen Matratze liegt. Geschäfte dür­fen schon wieder auf­machen, Kneipen auch, Schulen bleiben aber vor­erst geschlossen, hat der Bürg­er­meis­ter Eduar­do Paes entsch­ieden. Pri­or­itäten müssen eben sein. Triage nen­nt man das wohl in der Militärsprache.

Seit heute läuft die Oper­a­tion “Pente-Fino”. Nach­dem der grobe Kamm durch war und die “Kak­er­lak­en raus­gescheucht” wur­den, geht jet­zt noch der feine Kamm (pente fino) durch Omas Schubladen, um die Läuse plattzu­quetschen, um in der Sprache des zum Globo-Konz­ert gehören­den Käse­blatts Extra zu bleiben. So lange und höchst­wahrschein­lich darüber hin­aus fehlen erst ein­mal Strom und Wass­er für ein Großteil der 150.000 Men­schen, eine richtige Kanal­i­sa­tion gab es ja schon vorher nicht. Rios Städteplan­er scheinen der­gle­ichen auch nicht allzu wichtig zu nehmen. Als vor zwei Jahren das Con­jun­to Habita­cional Nova Sepeti­ba mit 4.000 Häusern eingewei­ht wurde – übri­gens der Drehort von City of God – fehlte dort die gesamte Infra­struk­tur: Straßen, Licht, Wass­er, Trans­port. Das was als “größter Wohnkom­plex Lateinamerikas” angekündigt war, ist heute eine einzige Favela mit 40.000 Einwohnern.

Gou­verneur Sér­gio Cabral, Erfind­er der Aktion “Shoque de Ordem”, küm­mert sich um seine Scher­flein: “Wenn alles vor­bei ist, kommt die CEDAE [Stadtreini­gung] und macht ein­mal richtig sauber. Dann sieht das hier sauber­er aus als in Leblon.” Hat er ern­sthaft gesagt. Kann sein, so unein­hol­bar sauber ist es auch im Süden nicht. Aber anders als in Leblon, wird im Nor­den erst ein­mal das Mil­itär das Wohnge­bi­et beset­zen und bis Mitte näch­sten Jahres kon­trol­lieren. Dann ste­hen hof­fentlich genü­gend UPP-Ein­heit­en zur Ver­fü­gung, um die Geschäfte zu übernehmen – wom­it auch die Frage nach der Aus­bil­dungszeit eines super-spezial­isierten Nach­barschafts­be­friedungspolizis­ten beant­wortet sein dürfte.

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