Lyrik XIV

Auf ein Fund­stück beson­der­er Art bin ich nicht selb­st gestoßen, son­dern dankenswert­er­weise von Flo­ri­an Neufeldt aufmerk­sam gemacht wor­den. Es find­et sich in einem Buch, das dem Kun­st­buch-Ver­leger Ernst Brüch­er gewid­met ist, in einem Beitrag des Köl­ner Kom­pon­is­ten und Exper­i­men­talfernsehmach­ers Mauri­cio Kagel. Den lassen wir hier kurz zu Wort kommen:

Irgend­wann in den 90er Jahren hat Ernst zwei Gedich­tan­tholo­gien in einem Pri­vat­druck für Fre­unde her­aus­ge­bracht. […] Die Auswahl der Gedichte und Apho­ris­men, die quer­beet vom 12. bis zum Ende des 20. Jahrhun­derts reicht­en […] war für mich auf­schlussre­ich. […] In einem der Bände fand ich ein Gedicht vom barock­en Dichter Quir­i­nus Kuhlmann, ein mir damals unbekan­nter Name. Als ich die Verse von Kuhlmann las, zit­terte ich vor Aufre­gung und wusste schla­gar­tig, dass ich hier das gefun­den hat­te, wonach ich so lange vergebens suchte: eine Textvor­lage für ein Vokalw­erk, ver­fasst nur mit mono­syl­labis­chen Worten.

Die Auss­chließlichkeit der ein­sil­bi­gen Wörter stimmt zwar nicht ganz (wie unschw­er zu erken­nen ist), sehr span­nend ist dieser Fund aber in der Tat. Denn nicht nur sprengt dieses Gedicht alle in der Barockzeit bekan­nten lyrischen For­men, es hebt auch durch die Aneinan­der­rei­hung der ein­sil­bi­gen Sub­stan­tive jedes Vers­maß auf, und bekommt dadurch eine völ­lig eigene Rhyth­mik. Mir jeden­falls ist vor dem 20. Jahrhun­dert nichts ver­gle­ich­bar Exper­i­mentelles bekannt.

Der XLI. Liebeskuss
Der Wech­sel men­schlich­er Sachen

Auf Nacht, Dun­st, Schlacht, Frost, Wind, See, Hitz, Süd, Ost,
West, Nord, Sonn, Feuer und Plagen
Fol­gt Tag, Glanz, Blut, Schnee, Still, Land, Blitz, Wärm,
Hitz, Lust, Kält, Licht, Brand und Not
Auf Leid, Pein, Schmach, Angst, Krieg, Ach, Kreuz, Streit,
Hohn, Schmerz, Qual, Tück, Schimpf als Spott
Will Freud, Zier, Ehr, Trost, Sieg, Rat, Nutz, Fried, Lohn,
Scherz, Ruh, Glück, Glimpf stets tagen.

Der Mond, Gun­st, Rauch, Gems, Fisch, Gold, Perl, 
Baum, Flamm,
Storch, Frosch, Lamm, Ochs und Magen
Liebt Schein, Stroh, Dampf, Berg, Flut, Glut, Schaum, 
Frucht,
Asch, Dach, Teich, Feld, Wies und Brot
Der Schütz, Men­sch, Fleiß, Müh, Kun­st, Spiel, Schiff, 
Mund,
Prinz, Rach, Sorg, Geiz, Treu und Gott
Sucht’s Ziel, Schlaf, Preis, Lob, Gun­st, Zank, Port, Kuss,
Thron, Mord, Sarg, Geld, Hold, Danksagen.

Was gut, stark, schw­er, recht, lang, groß, weiß, eins, ja,
Luft, Feur, hoch, weit genennt,
Pflegt bös, schwach, leicht, krumm, bre­it, klein, schwarz,
Drei, neun, Erd, Flut, tief, nah zu meiden.
Auch Mut, Lieb, Klug, Witz, Geist, Seel, Fre­und, Lust, Zier,
Ruhm, Fried, Scherz, Lob muss scheiden,
Wo Furcht, Hass, Trug, Wein, Fleisch, Leib, Feind, Weh, Schmach,
Angst, Stre­it, Schmerz, Hohn schon rennt.

Alles wech­selt, alles liebt, alles scheinet was zu hassen:
Wer aus diesem nach wird denken, muss der Men­schen Weisheit fassen.

(Quir­i­nus Kuhlmann, 1651–1689)

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