Rançiere zum intellektuellen Leben Zum Quatsch berufen
Ich verstehe schon, was dem intellektuellen Leben abwechselnd seinen Überschuss an Ehre oder seine Würdelosigkeit einbringt. Das Fabrik- oder Büroleben hat seine geregelten Abläufe und gibt sich nicht für mehr aus, als es ist. Im sogenannten intellektuellen Leben herrscht hingegen das Gefühl, dass es dabei ums Denken geht und dass dieses immer im Einsatz ist. Das macht das intellektuelle Leben so ermüdend. Es ist ohne Vergnügung. Ein Theaterbesuch oder die Zeitungslektüre bedeutet noch immer, im Dienst zu sein. Das macht es auch so unsinnig: Alles muss darin gerechtfertigt werden. Die Anpreisung eines Buches muss ein ganz neues Denken verkünden, die Berufung eines Individuums, einen Sieg der Wissenschaft oder des Obskurantismus, der Freiheit oder des Totalitarismus. Die Intellektuellen sind weder mehr noch weniger verrückt als die anderen. Bloß zwingt sie ihre Funktion oder eher die Unbestimmtheit ihrer Funktion, zu rationalisieren, das heißt andauernd Unsinn zu reden.
Jacques Rançière: Gibt es im intellektuellen Leben Ereignisse? [frz. 1986]. In: Moments politiques. Interventionen 1977–2009. Zürich: Diaphanes 2011.