Gute Beiträge zur Einschätzung der Corona-Krise liefert Floris Biskamp auf seinem Blog Asketismus und Bummelei. Ich habe eben die letzten beiden Einträge gelesen und kann die Lektüre nur empfehlen. Im ersten setzt er sich mit dem Schwachsinn der Idee der Herdenimmunität auseinander; im zweiten hinterfragt er die Heinsberg-Studie.
Allgemein gesagt ist das größte Problem des Kapitalismus in Zeiten der Krise, dass die individuellen Reaktionen von Unternehmer*innen gesamtheitlich betrachtet nichtintendierte negative Folgen haben: Eine Unternehmer*in entlässt die Hälfte ihrer Belegschaft, weil sie die Gehälter nicht mehr zahlen kann. Die entlassene Belegschaft verliert mit ihrem Einkommen ihre Kaufkraft, daher geht die Nachfrage von Konsumartikeln zurück. Das belastet wieder andere Unternehmer*innen, die ihrerseits nun entlassen müssen undsoweiter.
Daraus ergibt sich ein dynamisches Schrumpfen der Wirtschaft, die sogenannte Rezession. Für „die Wirtschaft“ ist das schlecht, für die entlassenen Leute auch. Gut dagegen ist es für die Natur und das Klima.
Wahnsinnig unfair ist der Kapitalismus, weil die Krisenfolgen so wahnsinnig ungleich verteilt sind: Manche (etwa Lebensmittelhändlerinnen) profitieren, während andere (etwa Restaurantbesitzerinnen) leiden. Egal, ob die Krise endogen (z.B. durch Finanz- und Immobilienspekulation) oder exogen (z.B. durch eine Pandemie) produziert wurde, im Kapitalismus treffen die Folgebelastungen manche sehr hart, manche gar nicht. Der Idee individueller Verantwortung spricht das Hohn (jede ist ihres Glückes Schmiedin, hoho): Warum sollte es meine Schuld sein, wenn ich statt eines Gemüseladens ein Falafelrestaurant eröffnet habe?
Alternative Wirtschaftsmodelle müssten sich also unter anderem daran messen lassen, dass sich a) aus Krisen keine die Krisen verstärkenden Krisendynamiken ergeben, und b) dass die positiven wie die negativen Effekte des Wirtschaftens ungefähr gleichmäßig verteilt werden.
An anderer Stelle wird diskutiert, in welchem Maße die Krise glimpflicher verlaufen wäre/würde, wenn wir es nicht mit einer kapitalistisch dominierten Weltordnung zu tun hätten. Um Bini zu zitieren:
“Ich denke es ist wichtig zu unterscheiden, was an der gegenwärtigen und kommenden ökonomischen Krise von dem Virus verursacht ist und was vom Kapitalismus. Es wäre unaufrichtig und dann auch nicht glaubwürdig, einfach alles auf den Kapitalismus zu schieben. Wenn wir genauer angeben können, welche Effekte in einer nichtkapitalistischen Wirtschaft unnötig und also vermeidbar sind, können wir vielleicht auch genauere Alternativen anbieten.“
Das Argument ist überzeugend. Eine glaubwürdige Krisenanalyse müsste sich darum bemühen aufzuzeigen, welcher Teil des gegenwärtigen und kommenden Elends in einer besser (vernünftiger und menschlicher) organisierten Welt vermieden worden wäre. Dabei ist einerseits zunächst zu konstatieren, dass ein Rückgang der Produktivität unter jeder realistischen Alternativökonomie notwendig wäre: Überall, wo Menschen auf engerem Raum miteinander arbeiten, muss ja die Produktion stillgelegt werden. (Helfen könnte da nur eine noch weitergehende Vollautomatisierung, die aber in manchen Bereichen undenkbar ist.) Andererseits stimmt sicherlich auch, dass eine demokratisch kontrollierte und bedürfnisorientierte Ökonomie extreme Effekte (etwa Massenentlassungen) vermeiden könnte und eventuell auch auf die Gefahr der Ausbreitung früher besser hätte reagieren können.
Das Haupthindernis, um die Frage genauer zu beantworten, ist logischerweise die bislang ganz vage Vorstellung davon, wie die dem Gedankenexperiment zugrundeliegende nichtkapitalistische Wirtschaft aussehen könnte – und ergo in welche Richtung sich linke Politik heute aufmachen sollte. Genauere Vorstellungen zu entwickeln scheint in der Tat eins der Gebote der Stunde zu sein.
Wesentlich dafür ist m.E. erstens, dass wir uns von modellhaften Utopien verabschieden und statt dessen bei real existierenden “Keimformen” bereits bestehender nichtkapitalistischer Praktiken ansetzen, und zweitens, dass wir aufhören, monistische Prinzipien zugrunde zu legen. (An beiden Punkten krankte die Debatte zwischen Marktsozialist*innen und Antimarktsozialist*innen.)
Mein Vorschlag: Wir schauen uns an, welche nichtkapitalistischen Produktionsweisen es im Kapitalismus gibt und diskutieren dann, wie wir sie – im Sinne eines Radikalreformismus, für den Allianzen aus Bewegungen und linken Parteien treibende Kräfte sein könnten – so pushen, dass sie gegenüber der kap. PW die Dominanz gewinnen (statt wie heute subdominant zu sein).
Fortsetzung