Bilanz 2018

Poli­tisch betra­chtet war 2018 erneut ein ziem­lich schlimmes Jahr. Gut, Friedrich Merz ist uns ger­ade noch erspart geblieben und es gab auch ein paar andere pos­i­tive Ereignisse – dazu später mehr. Zunächst ein­mal der Hor­ror: Die Ten­denz zur großen Renais­sance des Nation­al­is­mus hält an. In Ital­ien und Öster­re­ich sind Recht­sex­treme mit an die Macht gekom­men; in Rus­s­land und Chi­na herrschen autoritäre und nation­al­is­tis­che Regime, Indi­en wird von einem Hin­duna­tion­al­is­ten regiert und in den USA set­zt Trump Teile sein­er nation­al­is­tis­chen Agen­da um (wird von den Insti­tu­tio­nen allerd­ings einiger­maßen im Zaum gehal­ten und die von mir anfangs geäußerte Befürch­tung, er wolle einen echt­en Faschis­mus etablieren, erweist sich rück­blick­end ohne­hin als maß­los übertrieben).

Den Tief­punkt in dieser Hin­sicht bildete aber die Wahl in Brasilien. Während die Sit­u­a­tion in den genan­nten Län­dern sicher­lich für manche Men­schen sehr unan­genehm ist (to say the least) und immer die Gefahr weit­er­er Ver­schlim­merung beste­ht, han­delt es sich doch bei keinem davon um ein wirk­lich faschis­tis­ches Regime. In Brasilien dro­ht genau ein solch­es nun aber tat­säch­lich. Des His­torik­er Antoine Ack­er beant­wortet in ein­er dur­chaus abwä­gen­den, mit dem Begriff vor­sichtig umge­hen­den Analyse die Frage, ob der gewählte Präsi­dent Jair Bol­sonaro ein Faschist sei, let­ztlich klar mit Ja:

Seit Ende der 1980er Jahre hat das Aufkom­men des Recht­spop­ulis­mus in der europäis­chen Parteien­land­schaft zu ein­er infla­tionären Nutzung des Faschis­mus-Ver­gle­ichs in Poli­tik und Medi­en geführt. Viele His­torik­er hat dies bewegt, den häu­fi­gen Übertrei­bun­gen in der poli­tis­chen Diskus­sion ent­ge­gen­zutreten und das Etikett Faschis­mus nur sehr sparsam für recht­sradikale Bewe­gun­gen zu ver­wen­den. Jet­zt ist es an der Zeit, es auch für die Gegen­wart wieder zu nutzen, denn Bol­sonaro ist nicht nur der „Trump der Tropen“. Ihm geht es um einen recht­sex­tremen Total­i­taris­mus, auch wenn sein Plan ein­er recht­en Dik­tatur in der dig­i­tal­en Welt der gegen­seit­i­gen Ver­net­zung weitaus schw­er­er zu erken­nen ist als in Zeit­en, in denen diese Poli­tik noch von tra­di­tionellen faschis­tis­chen Struk­turen verkör­pert wurde. Den Bol­sonar­is­mus als dig­i­tal­en Faschis­mus zu erken­nen, ist deshalb keine Frage des akademis­chen Fach­jar­gons. Es ist ein adäquater his­torisch­er Ver­gle­ich, der uns über die Risiken dessen informiert, was derzeit geschieht.”

Inwieweit es Bol­sonaro gelin­gen wird, sein Pro­jekt auch wirk­lich zu real­isieren, wird maßge­blich vom Wider­stand der brasil­ian­is­chen Bevölkerung sowie von den inter­na­tionalen Reak­tio­nen abhän­gen. Wir wer­den das beobachten.


Ich habe nicht vor, diese Jahres­bi­lanz weit­er dem Hor­ror der Welt zu wid­men. Tat­säch­lich kann die per­ma­nente Wieder­hol­ung der­ar­tiger Mel­dun­gen und Analy­sen auch zu einem über­triebe­nen und let­ztlich unbe­grün­de­ten Pes­simis­mus führen. Es gab 2018 auch dur­chaus gute und ermuti­gende Entwick­lun­gen. Hier ist eine Liste mit 99 guten Nachricht­en („gut“ hier gemeint im Sinne pro­gres­siv­er Verän­derun­gen). Manche sind ein biss­chen frag­würdig, aber ins­ge­samt zeigt die Liste, dass nicht alles immer schlim­mer gewor­den ist, son­st manch­es eben auch wirk­lich bess­er. Gute Nachricht­en waren für mich auch die über alle Erwartun­gen gut besucht­en Demos für eine bessere Wohn­poli­tik am 14. April (mit mehr als 15.000 Teil­nehmerin­nen und vie­len wun­der­baren selb­st gebastel­ten Plakat­en) und vor allem die riesige Unteil­bar-Demo am 13. Oktober.


Anson­sten ver­süße ich mir das Leben, so gut es halt geht; u.a. durch den Kon­sum der schö­nen Kün­ste. Wie in den ver­gan­genen Jahren – 2017 (Filme + Plat­ten + Büch­er); 2016 (Filme + Plat­ten + Büch­er); 2015 (Filme + Plat­ten + Büch­er); 2014 (Filme / Plat­ten + Stücke); 2013 (neuere Filme / ältere Filme / Plat­ten / Stücke / Bild); 2012 (Filme); 2011 (Filme/ Plat­ten); 2010 (Filme); 2009 (Filme) – ziehe ich auch hier Bilanz. Mein Best-of-2018 sieht unge­fähr so aus:


Filme (im Kino gese­hene, neuere)

Ich tue gar nicht mehr so, als würde ich mich für den Main­stream inter­essieren (ich habe es ver­sucht, aber schaffe es ein­fach nicht): kein Block­buster, kein Hol­ly­wood­film auf der Liste. Ich kann es gut ver­ste­hen, wenn man meinem Filmgeschmack mis­straut, aber was soll ich machen, ich bin halt verko­rkst.
Bemerkenswert in diesem Jahr: Die Renais­sance des Schwarz-Weiß. Die vier let­zten Filme der Liste sind alle in Schwarz-Weiß gedreht und alle­samt ganz wun­der­schön anzuse­hen! (In chro­nol­o­gis­ch­er Sich­tungsrei­hen­folge mein­er Sich­tung:)
The Flori­da Project (Sean Bak­er, US 2017)
Tran­sit (Chris­t­ian Pet­zold, D/F 2018)
Une vie (Stéphane Brizet, F/BE 2016)
Zama (Lucre­cia Mar­tel, ARG et al. 2017)
Laz­zaro felice (Alice Rohrwach­er, I/CH/F/D 2018)
Gun­der­mann (Andreas Dresen, D 2018)
On the Water (Goran Dević, KRO 2018)
Da xiang xi di er zuo (An Ele­phant Sit­ting Still, Hu Bo [Qian Hu], CN 2018)
Cold War (Pawel Paw­likows­ki, PL/F/UK 2018)
De cen­dres et de brais­es (Manon Ott, F 2018)
Leto (Kir­ill Sere­bren­nikov, RUS/F 2018)
Roma (Alfon­so Cuáron, MEX/USA 2018)


Stücke (Tracks & Songs)

2018 geht in die deutschsprachige Pop­musikgeschichte als das Jahr ein, in dem mit Intro und Spex auf einen Schlag zwei der wichtig­sten Mag­a­zine ver­schwan­den. Erstaunlich ist, dass der eiskalte Atem des gnaden­losen Mark­t­ge­set­zes bei­de auf ein­mal erwis­cht hat. Bei ihrer einiger­maßen ähn­lichen Aus­rich­tung hätte man doch annehmen kön­nen, das Aus des einen hätte dem anderen neue Leserin­nen (Käuferin­nen, Abon­nen­ten) zus­pie­len kön­nen. Keine Ahnung, was da los war. Ich muss auch zugeben, dass es mich per­sön­lich wenig inter­essiert; ich habe bei­de schon seit Jahren kaum noch gele­sen und werde sie nicht ver­mis­sen (früher war die Spex für mich aber dur­chaus prä­gend).

Ich glaube, ich habe 2018 so wenig Musik gehört wie in keinem Jahr seit min­destens 25 Jahren. Das finde ich irri­tierend bis ver­störend und ich hoffe, dass das 2019 wieder bess­er wird. Dies­mal gibt es auch keine Liste voll­ständi­ger Alben, son­dern nur von einzel­nen Stück­en (in unge­fähr chro­nol­o­gis­ch­er Rei­hen­folge meines Hörens):

Sophia Kennedy – Being Spe­cial (2017)
Sev­er­i­ja – Zu Asche, Zu Staub (Psy­cho Niko­ros) (2017)
Kendrick Lamar, SZAAll the Stars (2018)
Kamasi Wash­ing­ton – Street Fight­er Mas (2018)
Mouse on Mars – Foul Mouth (2018)
Tocotron­ic – Elec­tric Gui­tar (2018)
Die Ner­ven – Niemals (2018)
Jon Hop­kins – Emer­ald Rush (Edit) (2018)
Chilly Gon­za­les – Be Nat­ur­al (2018)
Koko­roko – Abusey Junc­tion (2018)
Berlin­er Solis­ten­chor – Es kommt ein Schiff geladen (2009)
Yves Tumor – Noid (2018)


Büch­er

Zunächst hat­te ich vor, die Titel wie im let­zten Jahr in Fic­tion / Non­fic­tion zu unterteilen, aber mir scheint – obwohl ich nor­maler­weise nicht zu den gat­tungs­dekon­struk­tiv­en Rel­a­tivis­ten gehöre, son­dern denke, dass die Unter­schei­dung prag­ma­tisch dur­chaus Sinn macht – dass dies hier in eini­gen Fällen kaum zu bes­tim­men ist. Während „Spielfilm“ immer „Fik­tion“ heißt, scheint das bei „Roman“ nicht der Fall zu sein. Es häufen sich die auto­bi­ografis­chen Romane, deren Autoren beteuern, alles sei authen­tisch, nichts erfun­den. Die bekan­ntesten Fälle der let­zten Jahre sind sicher­lich Karl Ove Knaus­gård und Édouard Louis. Aber bei Gavi­no Led­das Padre padrone (1975), einem Buch über das Com­ing of Age eines sardis­chen Hirten­jun­gen, das einen tiefen Ein­druck auf mich hin­ter­lassen hat, ist das auch schon so (und natür­lich gibt es viele noch ältere Beispiele).

Der schein­bare Wider­spruch lässt sich nach min­destens drei Seit­en auflösen: Erstens kön­nte man ver­muten, dass „Roman“ hier die nar­ra­tive Form beze­ich­net, nicht die (fik­tive oder reale) Exten­sion des Erzählten. Zweit­ens kön­nte man annehmen, dass sich das Buch schlichtweg bess­er verkauft, wenn „Roman“ auf dem Cov­er ste­ht, solange der Autor (die Autorin) nicht bere­its berühmt ist. Wer will schon die Auto­bi­ografie ein­er ihm völ­lig unbekan­nten Per­son lesen. Drit­tens kön­nte man meinen, der auto­bi­ografis­che Roman unter­schei­de sich von der Auto­bi­ografie durch seine größere kün­st­lerische Frei­heit. So will es Wikipedia: „Trotz ihrer expliz­it sub­jek­tiv­en Per­spek­tive hat die Auto­bi­ografie einen größeren Objek­tiv­ität­sanspruch als der auto­bi­ografis­che Roman.“

Von mein­er Liste bildet übri­gens George Orwells Down and Out in Paris and Lon­don gewis­ser­maßen das Gegen­stück von der anderen Seite. Auf dem Cov­er der Erstaus­gabe heißt es:

This is, in our view, an extreme­ly force­ful and social­ly impor­tant doc­u­ment. The pic­ture drawn by the author is com­plete­ly con­vinc­ing: and though it is quite ter­ri­ble (as of course, it is meant tob be) it holds the atten­tion far more close­ly than do 90% of the novels.”

Und doch liest es sich an eini­gen Stellen viel aus­gedachter und kon­stru­iert­er als alles, was in Led­das Buch vorkommt. So ver­wun­dert es nicht, dass der Dio­genes-Ver­lag in ein­er späteren Aus­gabe der deutschen Über­set­zung ein­fach „Roman“ auf den Deck­el geschrieben hat (während die Gat­tungszuord­nung in den ersten Aufla­gen offenge­blieben war).

Fra­gen der Fik­tion­al­ität haben mich 2018 auch in mein­er filmwis­senschaftlichen Arbeit beschäftigt, aber damit will ich hier nun wirk­lich nie­man­den mehr lang­weilen. Hier die Liste (in alpha­betis­ch­er Reihenfolge):

Bini Adam­czak – Beziehungsweise Rev­o­lu­tion. 1917, 1968 und kom­mende (2017)
César Aira – Prinzessin Pri­mav­era (2017; argent. span. 2003)
James Bald­win – Beale Street Blues (2018; amerik. engl. 1973)
James Bald­win – Giovanni’s Room (1956)
Anto­nio Di Benedet­to – Und Zama wartet (1967; argent. span. 1956/1967)
Anto­nio Di Benedet­to – Stille (1968; argent. span. 1964)
Ulrike Edschmid – Das Ver­schwinden des Philip S. (2013)
Jen­ny Erpen­beck – Gehen, ging, gegan­gen (2015)
Jen­ny Erpen­beck – Aller Tage Abend (2012)
Arne Karsten – Geschichte Venedigs (2012)
Daniel Kehlmann – Tyll (2017)
Gavi­no Led­da – Padre padrone (1978; ital. 1975)
José Moure, Gilles Mouël­lic & Vin­cent Amiel (Hg.) – Le découpage au ciné­ma (2016)
Vladimir Odoevskij – Der schwarze Hand­schuh. Erzäh­lun­gen (2013; russ. 1839)
George Orwell – The Road to Wigan Pier (1937)
George Orwell – Down and Out in Paris and Lon­don (1933)
Cesare Pavese – Der Mond und die Feuer (2018; ital. 1950)
Mar­i­on Poschmann – Die Kiefer­nin­seln (2017)
William T. Voll­mann – Arme Leute (2018)

Und nun Prosit Neu­jahr, auf dass es ein (noch) besseres werde!

Kurzes Interview mit Bini Adamczak Zur Relevanz vom ollen Marx

Hier ein Inter­view, das eigentlich für den ORF aufgenom­men wurde, von dem öster­re­ichis­chen Sender jedoch abgelehnt wurde – mit der Begrün­dung, Adam­czak sei Mit­glied der IL (was nicht stimmt, aber bis vor Kurzem auf Wikipedia stand).

Frau Adam­czak, welche Rel­e­vanz hat Karl Marx 200 Jahre nach seinem Tod?

Marx — und der Zusam­men­hang, dem er entstammt — haben uns eine präzise und radikale Analyse des Kap­i­tal­is­mus geschenkt. So lange wir im Kap­i­tal­is­mus leben, bleibt diese Analyse aktuell. Die The­o­rien von Marx wer­den also erst dann zu den alten Eisen zählen kön­nen, wenn auch der Kap­i­tal­is­mus auf dem Müll­haufen der Geschichte entsorgt ist.

Sie haben sich beson­ders inten­siv mit Geschlechter­ver­hält­nis­sen in unser­er Gesellschaft auseinan­derge­set­zt. Inwieweit ist Marx für diese Analyse hil­fre­ich? Wo sind Schwachstellen?

Eine zen­trale kap­i­tal­is­tis­che Ide­olo­gie lautet: „So, wie es ist, war es immer, so wird es immer sein“. Schon die Jägerin­nen und Samm­ler sollen Felle und Beeren gegeneinan­der aus­ge­tauscht haben, schon in den Steinzei­thöhlen sollen manche Kinder die Farbe rosa, andere die Farbe hell­blau bevorzugt haben. Der Grund hier­für wird „Natur“ genan­nt — „da kann man halt nichts machen“, heißt es. Darüber hat sich der His­torik­er Marx zu Recht lustig gemacht. Im Laufe der Zeit haben die Men­schen mit sehr unter­schiedlichen Mod­ellen von Wirtschaft oder Geschlecht gelebt. Über den aller­größten Zeitraum der Men­schheits­geschichte hat Geld eine ver­schwindend kleine Rolle gespielt und auch das Patri­ar­chat gibt es noch nicht ewig. Wed­er die Unter­drück­ung des einen Geschlechts durch das andere, noch über­haupt die Unterteilung von Men­schen in Geschlechter sind natür­lich. Ein offen­er Blick in die Geschichte zeigt: Es war nicht immer so, es muss nicht immer so bleiben.

Sie gel­ten als promi­nente Kri­tik­erin des Stal­in­is­mus. Gibt es Ihrer Mei­n­ung nach einen Zusam­men­hang zwis­chen den The­o­rien von Marx und den autoritären Aus­for­mungen des Sozialismus?

Marx war vor allem Kri­tik­er der kap­i­tal­is­tis­chen Herrschaft. Mit der Frage, wie eine eine herrschafts­freie Gesellschaft ausse­hen kann, die nach dem Kap­i­tal­is­mus kommt, hat er sich wenig beschäftigt. Die Ein­wände ander­er Sozial­istin­nen, wie etwa Bakunins, der auf mögliche Gefahren hin­wies, hat Marx mit Arro­ganz bei­seite gewis­cht. Damit muss er sich den Vor­wurf ein­er gewis­sen intellek­tuellen Ver­ant­wor­tungslosigkeit machen lassen. Es gibt bei Marx auch autoritäre Ten­den­zen, vor allem in der Prax­is, etwa gegenüber den anar­chis­tis­chen Genossin­nen, und eben­falls in seinen Tex­ten. Der autoritäre Sound find­et sich da vor allem in den Fußnoten, anders als bei Lenin, wo er in den Haupt­text wan­dert. Der Stal­in­is­mus jedoch ist eine gän­zliche Verkehrung des kom­mu­nis­tis­chen Ver­sprechens. Dieses lautete immer: Nicht die Herrschaft der einen durch die Herrschaft der anderen zu erset­zen – wie bish­er in der Geschichte –, son­dern alle Herrschaft abzuschaf­fen. Es ist deswe­gen kein Zufall, dass viele der früh­sten und radikalsten Kri­tiken des Stal­in­is­mus von Marx­istin­nen for­muliert wur­den. Aber die stal­in­is­tis­che Herrschaft lässt sich nicht mehr aus der Geschichte weg­denken. In diesem Sinne hat­te Marx weniger Ein­fluss auf Stal­in als Stal­in auf Marx. Das macht die Auf­gabe für die Men­schen heute schw­er­er: Sie müssen nicht nur die Schreck­en des Kap­i­tal­is­mus abschüt­teln, son­dern auch ver­hin­dern, dass neue Schreck­en an deren Stelle treten.

Führende Ökonomen gehen davon aus, dass die Krise mit dem Jahr 2008 keineswegs vor­bei ist, son­dern dass uns weit­ere schwere Erschüt­terun­gen dro­hen. Kann Marx uns helfen, die Krisen des Kap­i­tal­is­mus bess­er zu verstehen?

Mod­erne Men­schen, vor allem lib­erale, gehen oft davon aus, dass alles so weit­er geht wie bish­er. Ins­beson­dere in Phasen von Wohl­stand und Wach­s­tum glauben sie an einen steten Fortschritt zum Besseren. Umso größer ist das Erschreck­en, wenn eine plöt­zliche ökonomis­che Krise diese Illu­sion zer­reißt. Plöt­zlich scheint die Zeit rück­wärts zu laufen und die hässlich­sten Leichen der Geschichte kehren an die Ober­fläche der Tage­spoli­tik. Wir erleben die Rück­kehr des Faschis­mus. Marx Analyse zeigt, dass die Krise notwendig zum Kap­i­tal­is­mus gehört. Die kap­i­tal­is­tis­che Ökonomie zeich­net sich durch einen unbe­gren­zten Zwang zum Wach­s­tum aus, der sich nicht aufhal­ten lässt. Auch dann nicht, wenn son­nen­klar ist, dass er die natür­lichen Lebens­grund­la­gen des begren­zten Plan­eten zer­stören wird. Marx kann helfen, hier klar zu sehen: Die Gefahr des Faschis­mus lässt sich nicht ban­nen und das Kli­ma der Erde nicht ret­ten, so lange der Kap­i­tal­is­mus beste­hen bleibt.

Trump und die Folgen Der antifaschistische Imperativ

Man will sich der­lei Anrufun­gen als (gefühlt) sou­veränes Sub­jekt ja eigentlich entziehen. Du musst! Ich muss gar nichts. Doch ich muss.

Ich hat­te eigentlich vor, sobald es die Lohnar­beit (Forschung & Kar­riere) wieder erlaubt, mich mal mehr mit Shake­speare zu beschäfti­gen. Ger­ade lese ich zum Ein­schlafen, auf dem Klo, auf Zug­fahrten Frank Gün­thers Unser Shake­speare. Die neuen Über­set­zun­gen von sechs Stück­en durch Schan­elec & Gosch warten noch unge­le­sen im Regal auf mich.

Den Zumu­tun­gen der Lohnar­beit (Forschung & Kar­riere) kann und will ich mich nicht entziehen, aber die knappe restliche Zeit werde ich nun anders ver­brin­gen müssen. Shake­speare muss warten.

Der Sieg von Trump hat mich erwis­cht wie ein Faustschlag aus dem Nichts. Ich weiß, dass sich kluge Genossin­nen schon seit ein paar Jahren wieder ver­stärkt dem The­ma (Neo-)Faschismus zugewen­det haben. Ich gebe zu, dass ich davon, trotz aller alarmieren­der Zeichen, nichts wis­sen wollte. Aber jet­zt führt daran kein Weg mehr vor­bei. Seit Mittwoch mor­gen hört mein Kopf nicht auf sich zu drehen, ich denke per­ma­nent darüber nach, ich schlafe schlecht und denke, wenn ich früh mor­gens aufwache, als erstes an Trump. Das liegt daran, dass ich davon überzeugt bin, dass er ein waschechter Faschist ist; dass er ver­suchen wird, ein faschis­tis­ches Regime zu erricht­en; dass er eine entsprechende Admin­is­tra­tion ein­set­zen wird; dass sich dieses Pro­jekt aber erst nach und nach wirk­lich für alle unmissver­ständlich als solch­es ent­pup­pen wird; dass deshalb das ganze Appease­ment, das uns in den näch­sten Monat­en bevorste­ht, reine Augen­wis­cherei und aus link­er und demokratis­ch­er Sicht kon­trapro­duk­tiv ist.

Warum glaube ich, dass Trump wed­er eine “Black Box” (“wir wis­sen ja gar nicht, was er vorhat”) noch nur ein “Pop­ulist” ist? Weil wir eben doch wis­sen, was er vorhat. Er hat es oft genug wieder­holt. Er will keine Moslems mehr ins Land lassen und vie­len von denen, die in den USA leben, wieder los wer­den. Ein solch­er Präsi­dent wird Pogrome nicht nur nicht ver­hin­dern. Er schürt sie.

Er will eine Mauer erricht­en und die Migra­tion von Mexikaner­in­nen ver­hin­dern. Ob und wann die Mauer kommt, ist neben­säch­lich. Worum es geht, ist die Gren­ze “zu sich­ern”. Er wird Schießbe­fehle erteilen. Er wird Men­schen umbrin­gen lassen.

Sein Wirtschaft­spro­gramm ist neolib­eraler Staatskap­i­tal­is­mus. Das ist zwar eigentlich ein Oxy­moron; in der Prax­is gibt es dafür aber mehr oder weniger erfol­gre­iche Vor­bilder: Chi­na und Rus­s­land. Der Sieg Trumps ver­dankt sich nicht zulet­zt dem Ver­sprechen von pro­tek­tion­is­tis­chen Maß­nah­men (zusam­men gefasst in der Formel “Amer­i­can­ism instead of Glob­al­ism”). Der tief­greifend­en und medi­al kaum reflek­tierten Krise des Kap­i­tal­is­mus, die sich vor allem an den mas­siv­en Ver­w­er­fun­gen in den unteren Schicht­en und an der Prekarisierung der Mit­telschicht zeigt, will Trump durch nation­al­is­tis­chen Pro­tek­tion­is­mus begeg­nen. “Amer­i­ca first” heißt aber auch: Das Erge­hen aller anderen Men­schen in allen anderen Län­dern inter­essiert uns nicht. Das wird entsprechende Kon­se­quen­zen haben, z.B. Han­del­skriege, die bei Bedarf oder ein­fach aus ein­er dia­bolis­chen Dynamik her­aus, in echte Kriege ver­wan­delt wer­den. (Was Trump vom Ein­satz von Atom­waf­fen hält, wis­sen wir übri­gens auch.)

Kann das Pro­gramm des neolib­eralen Staatskap­i­tal­is­mus funk­tion­ieren? Jein. Die Trump-Admin­stra­tion wird alles daran set­zten, dass es aus der Per­spek­tive der von den Ver­w­er­fun­gen Betrof­fe­nen so aussieht als ob. Etwa durch staatliche Kon­junk­tur­pro­gramme (Auto­bah­nen bauen etc., ken­nen wir ja), die Men­schen “in Arbeit brin­gen”. Wo es nicht funk­tion­iert, wer­den Schuldige gefun­den wer­den, die die Verbesserun­gen ange­blich sabotieren. Das wer­den die lib­eralen Main­streamme­di­en, die linken Intellek­tuellen, die Mexikaner­in­nen und Mus­li­mas sein. Das gute alte Prinzip des Sün­den­bocks, das im post­fak­tis­chen Zeital­ter noch bess­er funk­tion­ieren wird als eh schon eh und je.

Trump hat kein­er­lei demokratis­che Skru­pel. Der sig­nifikan­teste Moment sein­er “ver­söhn­lichen” Vic­to­ry Speech war dieser:

As I’ve said from the begin­ning, ours was not a cam­paign, but rather an incred­i­ble and great move­ment made up of mil­lions of hard-work­ing men and women who love their coun­try and want a bet­ter, brighter future for them­selves and for their families.

Es geht nicht um die Mehrheit bei Wahlen. Es geht um eine nation­al­is­tis­che Bewe­gung. Symp­to­ma­tisch war auch seine Reak­tion auf die ersten Proteste:

Just had a very open and suc­cess­ful pres­i­den­tial elec­tion. Now pro­fes­sion­al pro­test­ers, incit­ed by the media, are protest­ing. Very unfair!

Auch das ist ein bekan­ntes Muster. Proteste wer­den nicht als legit­imes Mit­tel der Demokratie, als Möglichkeit der Men­schen, ihren Unmut zu bekun­den, ver­standen und respek­tiert, son­dern als unsportlich und oben­drein von außen (entwed­er aus dem Aus­land oder wie hier von den Medi­en) ges­teuert diskred­i­tiert. Keine Frage: So wird es weitergehen.

Wenn es also stimmt, dass Trump ein Faschist ist, schließen sich einige Fra­gen an. Warum ist der Neo-Faschis­mus so erfol­gre­ich? Denn Trump ist ja nicht der erste. Bere­its an der Macht sind: Putin in Rus­s­land, Erdo­gan in der Türkei, Orban in Ungarn, die PiS in Polen, Al-Sis­si in Ägypten etc.. In Frankre­ich wird näch­stes Jahr aller Voraus­sicht nach Le Pen gewählt. Eine Erk­lärung dafür müsste weit­er aus­holen und bess­er abgesichert sein, als das, was ich im fol­gen­den leis­ten kann. Überzeugt bin ich aber, dass der neue glob­ale Faschis­mus nur als Antwort auf die vom neolib­eralen Regime ver­schärfte Krise des Kap­i­tal­is­mus ver­ständlich ist. Erfol­gre­ich ist er, weil die anderen bei­den möglichen Antworten auf diese Krise – kom­mu­nis­tis­che Radikaltrans­for­ma­tion und sozialdemokratis­che Umverteilungspoli­tik – die meis­ten Men­schen aus ver­schiede­nen Grün­den nicht überzeu­gen. Der Kom­mu­nis­mus ist zum einen durch den dys­funk­tionalen und autoritären Staatssozial­is­mus desavouiert, zum anderen fehlen den Mod­ellen des neuen Kom­mu­nis­mus selb­st im linken und linksradikalen Lager überzeugte Unter­stützerin­nen sowie medi­ale Aufmerk­samkeit. Kurz gesagt: Momen­tan glaubt kaum jemand an den Kom­mu­nis­mus als real-mögliche Alter­na­tive. Die Sozialdemokratie auf der anderen Seite bietet kein überzeu­gen­des Gegen­mod­ell zum Faschis­mus an, weil sie sich in den Zeit­en der neolib­eralen Hege­monie (ca. 1988–2008) als dieser gegenüber hoff­nungs­los wehr­los, als kom­plett prinzip­i­en­los erwiesen hat. (Die Leute haben das ver­standen: Die Dez­imierung der SPD von struk­turell zwis­chen 35 und 40 auf 20 bis 25% nach der Agen­da 2010 ist dafür sicht­bar­er Aus­druck.) Die “Sozialdemokrat­en” dieser Jahre (Clin­ton, Blair, Schröder, Zap­a­tero etc.) haben sich als die besten Exeku­toren des neolib­eralen Pro­gramms erwiesen und sind insofern für den Neo­faschis­mus mit verantwortlich.

Der Erfolg des neuen Faschis­mus ist also, so sehr er in Einzelfällen wie ein Betrieb­sun­fall aussieht, recht logisch. Aber was ergibt sich daraus?

Damit wäre ich beim Anfang des Textes, dem Imper­a­tiv. Spätestens mit dem Sieg Trumps ist die Wel­tord­nung eine neue, sie ist eine in großen Teilen faschis­tis­che. So ärg­er­lich es ist: Für uns andere ist dies nun die Zeit des Antifaschis­mus. Wir kön­nen uns unseren Zeitvertreib nicht mehr frei aus­suchen. Wir haben zu tun. Wir müssen uns ein besseres Ver­ständ­nis des Phänomens erar­beit­en, wir müssen wirk­same Gegen­strate­gien entwick­eln. Wir müssen kurz- und mit­tel­fristig am Auf­bau ein­er antifaschis­tis­chen Front arbeit­en, ein­er Front, die alle antifaschis­tis­chen Kräfte von ganz links bis ins human­is­tisch-kon­ser­v­a­tive Lager ein­bindet. Mit­tel- und langfristig müssen wir endlich wieder an der Abschaf­fung des Kap­i­tal­is­mus arbeit­en. Solang es ihn gibt, wird es Krisen geben, wird es den Faschis­mus geben.