Bilanz 2018

Poli­tisch betra­chtet war 2018 erneut ein ziem­lich schlimmes Jahr. Gut, Friedrich Merz ist uns ger­ade noch erspart geblieben und es gab auch ein paar andere pos­i­tive Ereignisse – dazu später mehr. Zunächst ein­mal der Hor­ror: Die Ten­denz zur großen Renais­sance des Nation­al­is­mus hält an. In Ital­ien und Öster­re­ich sind Recht­sex­treme mit an die Macht gekom­men; in Rus­s­land und Chi­na herrschen autoritäre und nation­al­is­tis­che Regime, Indi­en wird von einem Hin­duna­tion­al­is­ten regiert und in den USA set­zt Trump Teile sein­er nation­al­is­tis­chen Agen­da um (wird von den Insti­tu­tio­nen allerd­ings einiger­maßen im Zaum gehal­ten und die von mir anfangs geäußerte Befürch­tung, er wolle einen echt­en Faschis­mus etablieren, erweist sich rück­blick­end ohne­hin als maß­los übertrieben).

Den Tief­punkt in dieser Hin­sicht bildete aber die Wahl in Brasilien. Während die Sit­u­a­tion in den genan­nten Län­dern sicher­lich für manche Men­schen sehr unan­genehm ist (to say the least) und immer die Gefahr weit­er­er Ver­schlim­merung beste­ht, han­delt es sich doch bei keinem davon um ein wirk­lich faschis­tis­ches Regime. In Brasilien dro­ht genau ein solch­es nun aber tat­säch­lich. Des His­torik­er Antoine Ack­er beant­wortet in ein­er dur­chaus abwä­gen­den, mit dem Begriff vor­sichtig umge­hen­den Analyse die Frage, ob der gewählte Präsi­dent Jair Bol­sonaro ein Faschist sei, let­ztlich klar mit Ja:

Seit Ende der 1980er Jahre hat das Aufkom­men des Recht­spop­ulis­mus in der europäis­chen Parteien­land­schaft zu ein­er infla­tionären Nutzung des Faschis­mus-Ver­gle­ichs in Poli­tik und Medi­en geführt. Viele His­torik­er hat dies bewegt, den häu­fi­gen Übertrei­bun­gen in der poli­tis­chen Diskus­sion ent­ge­gen­zutreten und das Etikett Faschis­mus nur sehr sparsam für recht­sradikale Bewe­gun­gen zu ver­wen­den. Jet­zt ist es an der Zeit, es auch für die Gegen­wart wieder zu nutzen, denn Bol­sonaro ist nicht nur der „Trump der Tropen“. Ihm geht es um einen recht­sex­tremen Total­i­taris­mus, auch wenn sein Plan ein­er recht­en Dik­tatur in der dig­i­tal­en Welt der gegen­seit­i­gen Ver­net­zung weitaus schw­er­er zu erken­nen ist als in Zeit­en, in denen diese Poli­tik noch von tra­di­tionellen faschis­tis­chen Struk­turen verkör­pert wurde. Den Bol­sonar­is­mus als dig­i­tal­en Faschis­mus zu erken­nen, ist deshalb keine Frage des akademis­chen Fach­jar­gons. Es ist ein adäquater his­torisch­er Ver­gle­ich, der uns über die Risiken dessen informiert, was derzeit geschieht.”

Inwieweit es Bol­sonaro gelin­gen wird, sein Pro­jekt auch wirk­lich zu real­isieren, wird maßge­blich vom Wider­stand der brasil­ian­is­chen Bevölkerung sowie von den inter­na­tionalen Reak­tio­nen abhän­gen. Wir wer­den das beobachten.


Ich habe nicht vor, diese Jahres­bi­lanz weit­er dem Hor­ror der Welt zu wid­men. Tat­säch­lich kann die per­ma­nente Wieder­hol­ung der­ar­tiger Mel­dun­gen und Analy­sen auch zu einem über­triebe­nen und let­ztlich unbe­grün­de­ten Pes­simis­mus führen. Es gab 2018 auch dur­chaus gute und ermuti­gende Entwick­lun­gen. Hier ist eine Liste mit 99 guten Nachricht­en („gut“ hier gemeint im Sinne pro­gres­siv­er Verän­derun­gen). Manche sind ein biss­chen frag­würdig, aber ins­ge­samt zeigt die Liste, dass nicht alles immer schlim­mer gewor­den ist, son­st manch­es eben auch wirk­lich bess­er. Gute Nachricht­en waren für mich auch die über alle Erwartun­gen gut besucht­en Demos für eine bessere Wohn­poli­tik am 14. April (mit mehr als 15.000 Teil­nehmerin­nen und vie­len wun­der­baren selb­st gebastel­ten Plakat­en) und vor allem die riesige Unteil­bar-Demo am 13. Oktober.


Anson­sten ver­süße ich mir das Leben, so gut es halt geht; u.a. durch den Kon­sum der schö­nen Kün­ste. Wie in den ver­gan­genen Jahren – 2017 (Filme + Plat­ten + Büch­er); 2016 (Filme + Plat­ten + Büch­er); 2015 (Filme + Plat­ten + Büch­er); 2014 (Filme / Plat­ten + Stücke); 2013 (neuere Filme / ältere Filme / Plat­ten / Stücke / Bild); 2012 (Filme); 2011 (Filme/ Plat­ten); 2010 (Filme); 2009 (Filme) – ziehe ich auch hier Bilanz. Mein Best-of-2018 sieht unge­fähr so aus:


Filme (im Kino gese­hene, neuere)

Ich tue gar nicht mehr so, als würde ich mich für den Main­stream inter­essieren (ich habe es ver­sucht, aber schaffe es ein­fach nicht): kein Block­buster, kein Hol­ly­wood­film auf der Liste. Ich kann es gut ver­ste­hen, wenn man meinem Filmgeschmack mis­straut, aber was soll ich machen, ich bin halt verko­rkst.
Bemerkenswert in diesem Jahr: Die Renais­sance des Schwarz-Weiß. Die vier let­zten Filme der Liste sind alle in Schwarz-Weiß gedreht und alle­samt ganz wun­der­schön anzuse­hen! (In chro­nol­o­gis­ch­er Sich­tungsrei­hen­folge mein­er Sich­tung:)
The Flori­da Project (Sean Bak­er, US 2017)
Tran­sit (Chris­t­ian Pet­zold, D/F 2018)
Une vie (Stéphane Brizet, F/BE 2016)
Zama (Lucre­cia Mar­tel, ARG et al. 2017)
Laz­zaro felice (Alice Rohrwach­er, I/CH/F/D 2018)
Gun­der­mann (Andreas Dresen, D 2018)
On the Water (Goran Dević, KRO 2018)
Da xiang xi di er zuo (An Ele­phant Sit­ting Still, Hu Bo [Qian Hu], CN 2018)
Cold War (Pawel Paw­likows­ki, PL/F/UK 2018)
De cen­dres et de brais­es (Manon Ott, F 2018)
Leto (Kir­ill Sere­bren­nikov, RUS/F 2018)
Roma (Alfon­so Cuáron, MEX/USA 2018)


Stücke (Tracks & Songs)

2018 geht in die deutschsprachige Pop­musikgeschichte als das Jahr ein, in dem mit Intro und Spex auf einen Schlag zwei der wichtig­sten Mag­a­zine ver­schwan­den. Erstaunlich ist, dass der eiskalte Atem des gnaden­losen Mark­t­ge­set­zes bei­de auf ein­mal erwis­cht hat. Bei ihrer einiger­maßen ähn­lichen Aus­rich­tung hätte man doch annehmen kön­nen, das Aus des einen hätte dem anderen neue Leserin­nen (Käuferin­nen, Abon­nen­ten) zus­pie­len kön­nen. Keine Ahnung, was da los war. Ich muss auch zugeben, dass es mich per­sön­lich wenig inter­essiert; ich habe bei­de schon seit Jahren kaum noch gele­sen und werde sie nicht ver­mis­sen (früher war die Spex für mich aber dur­chaus prä­gend).

Ich glaube, ich habe 2018 so wenig Musik gehört wie in keinem Jahr seit min­destens 25 Jahren. Das finde ich irri­tierend bis ver­störend und ich hoffe, dass das 2019 wieder bess­er wird. Dies­mal gibt es auch keine Liste voll­ständi­ger Alben, son­dern nur von einzel­nen Stück­en (in unge­fähr chro­nol­o­gis­ch­er Rei­hen­folge meines Hörens):

Sophia Kennedy – Being Spe­cial (2017)
Sev­er­i­ja – Zu Asche, Zu Staub (Psy­cho Niko­ros) (2017)
Kendrick Lamar, SZAAll the Stars (2018)
Kamasi Wash­ing­ton – Street Fight­er Mas (2018)
Mouse on Mars – Foul Mouth (2018)
Tocotron­ic – Elec­tric Gui­tar (2018)
Die Ner­ven – Niemals (2018)
Jon Hop­kins – Emer­ald Rush (Edit) (2018)
Chilly Gon­za­les – Be Nat­ur­al (2018)
Koko­roko – Abusey Junc­tion (2018)
Berlin­er Solis­ten­chor – Es kommt ein Schiff geladen (2009)
Yves Tumor – Noid (2018)


Büch­er

Zunächst hat­te ich vor, die Titel wie im let­zten Jahr in Fic­tion / Non­fic­tion zu unterteilen, aber mir scheint – obwohl ich nor­maler­weise nicht zu den gat­tungs­dekon­struk­tiv­en Rel­a­tivis­ten gehöre, son­dern denke, dass die Unter­schei­dung prag­ma­tisch dur­chaus Sinn macht – dass dies hier in eini­gen Fällen kaum zu bes­tim­men ist. Während „Spielfilm“ immer „Fik­tion“ heißt, scheint das bei „Roman“ nicht der Fall zu sein. Es häufen sich die auto­bi­ografis­chen Romane, deren Autoren beteuern, alles sei authen­tisch, nichts erfun­den. Die bekan­ntesten Fälle der let­zten Jahre sind sicher­lich Karl Ove Knaus­gård und Édouard Louis. Aber bei Gavi­no Led­das Padre padrone (1975), einem Buch über das Com­ing of Age eines sardis­chen Hirten­jun­gen, das einen tiefen Ein­druck auf mich hin­ter­lassen hat, ist das auch schon so (und natür­lich gibt es viele noch ältere Beispiele).

Der schein­bare Wider­spruch lässt sich nach min­destens drei Seit­en auflösen: Erstens kön­nte man ver­muten, dass „Roman“ hier die nar­ra­tive Form beze­ich­net, nicht die (fik­tive oder reale) Exten­sion des Erzählten. Zweit­ens kön­nte man annehmen, dass sich das Buch schlichtweg bess­er verkauft, wenn „Roman“ auf dem Cov­er ste­ht, solange der Autor (die Autorin) nicht bere­its berühmt ist. Wer will schon die Auto­bi­ografie ein­er ihm völ­lig unbekan­nten Per­son lesen. Drit­tens kön­nte man meinen, der auto­bi­ografis­che Roman unter­schei­de sich von der Auto­bi­ografie durch seine größere kün­st­lerische Frei­heit. So will es Wikipedia: „Trotz ihrer expliz­it sub­jek­tiv­en Per­spek­tive hat die Auto­bi­ografie einen größeren Objek­tiv­ität­sanspruch als der auto­bi­ografis­che Roman.“

Von mein­er Liste bildet übri­gens George Orwells Down and Out in Paris and Lon­don gewis­ser­maßen das Gegen­stück von der anderen Seite. Auf dem Cov­er der Erstaus­gabe heißt es:

This is, in our view, an extreme­ly force­ful and social­ly impor­tant doc­u­ment. The pic­ture drawn by the author is com­plete­ly con­vinc­ing: and though it is quite ter­ri­ble (as of course, it is meant tob be) it holds the atten­tion far more close­ly than do 90% of the novels.”

Und doch liest es sich an eini­gen Stellen viel aus­gedachter und kon­stru­iert­er als alles, was in Led­das Buch vorkommt. So ver­wun­dert es nicht, dass der Dio­genes-Ver­lag in ein­er späteren Aus­gabe der deutschen Über­set­zung ein­fach „Roman“ auf den Deck­el geschrieben hat (während die Gat­tungszuord­nung in den ersten Aufla­gen offenge­blieben war).

Fra­gen der Fik­tion­al­ität haben mich 2018 auch in mein­er filmwis­senschaftlichen Arbeit beschäftigt, aber damit will ich hier nun wirk­lich nie­man­den mehr lang­weilen. Hier die Liste (in alpha­betis­ch­er Reihenfolge):

Bini Adam­czak – Beziehungsweise Rev­o­lu­tion. 1917, 1968 und kom­mende (2017)
César Aira – Prinzessin Pri­mav­era (2017; argent. span. 2003)
James Bald­win – Beale Street Blues (2018; amerik. engl. 1973)
James Bald­win – Giovanni’s Room (1956)
Anto­nio Di Benedet­to – Und Zama wartet (1967; argent. span. 1956/1967)
Anto­nio Di Benedet­to – Stille (1968; argent. span. 1964)
Ulrike Edschmid – Das Ver­schwinden des Philip S. (2013)
Jen­ny Erpen­beck – Gehen, ging, gegan­gen (2015)
Jen­ny Erpen­beck – Aller Tage Abend (2012)
Arne Karsten – Geschichte Venedigs (2012)
Daniel Kehlmann – Tyll (2017)
Gavi­no Led­da – Padre padrone (1978; ital. 1975)
José Moure, Gilles Mouël­lic & Vin­cent Amiel (Hg.) – Le découpage au ciné­ma (2016)
Vladimir Odoevskij – Der schwarze Hand­schuh. Erzäh­lun­gen (2013; russ. 1839)
George Orwell – The Road to Wigan Pier (1937)
George Orwell – Down and Out in Paris and Lon­don (1933)
Cesare Pavese – Der Mond und die Feuer (2018; ital. 1950)
Mar­i­on Poschmann – Die Kiefer­nin­seln (2017)
William T. Voll­mann – Arme Leute (2018)

Und nun Prosit Neu­jahr, auf dass es ein (noch) besseres werde!

Meine 30 besten 2011 im Kinosaal gesehenen Filme

Ältere

Ni luo he nu er (The Daugh­ter from Nile, Hou Hsiao-hsien, TW 1987)
Arany­er Din Ratri (Days and Nights in the For­est, Satya­jit Ray, IND 1970)
Mahana­gar (The Big City, Satya­jit Ray, IND 1963)
Le mil­lion (René Clair, F 1931)
Young Mr. Lin­coln (John Ford, USA 1939) Weit­er­lesen