Berlinale 2021, erste Runde

Eine Art Ranking.

Petite Maman (Céline Sci­amma, FR 2021) Wet­tbe­werb
Trauer- und Fam­i­lien­ar­beit eines jun­gen Mäd­chens, deren Groß­mut­ter stirbt; ver­schiedene Motive der Fan­tastik (Meta­mor­phose, Dop­pel­gän­gerin, Mis­chung von Zeit­ebe­nen) wer­den hier durch die Imag­i­na­tion des Mäd­chens motiviert, das der Kind­heit der eige­nen Mut­ter auf der Spur ist. Stärk­er als an ihre let­zten Filme Bande de filles und Por­trait de la jeune fille en feu erin­nert Petite Maman ästhetisch und top­isch an Tomboy. Hat mich ziem­lich begeistert.

Blut­sauger (Blood­suck­er, Julian Radl­maier, DE 2021) Encoun­ters
Der Pro­log ver­rät die Prämisse: In einem Kap­i­talle­sekreis am Strand macht ein eifriger Leser auf mehrere Stellen im Kap­i­tal (Band 1) aufmerk­sam, an denen Marx die Meta­pher des den Pro­le­tari­er aus­saugen­den Kap­i­tal­is­ten ver­wen­det. Diese Meta­pher (oder ist es eher eine Alle­gorie? eine Analo­gie?, das fragt man sich im Laufe des Films) nimmt Blut­sauger wörtlich und macht aus den Reichen (ein­er Adli­gen, einem Bürg­er­meis­ter, einem kap­i­tal­is­tis­chen Schnösel) Vam­pire, die sich am sie umgeben­den Plebs genüsslich tun. Keine Komödie, kein Kla­mauk, eine Para­bel im komö­di­antis­chen Kleid, ein dur­chaus ernst zu nehmender marx­is­tis­ch­er und ide­olo­giekri­tis­ch­er Film. Der Humor lässt einen eher schmun­zeln als laut lachen, ist eher amüsant als super­lustig (manche Gags ver­puffen auch ein­fach) und gelingt beson­ders dort, wo sich Bild- und Sprach­witz mis­chen. Über­haupt haben mir Mise en Scène (Kostüm, Szener­ie, Licht, Chore­ografie) und Découpage (Kadrierung, Rhyth­mus der Ein­stel­lungswech­sel) sehr gut gefallen.

Qué será del ver­a­no (What Will Sum­mer Bring, Igna­cio Ceroi, ARG 2021) Forum
Found-Footage-Doku­men­tarfilm oder Mock­u­men­tary? Ich bin mir nicht sich­er. Der argen­tinis­che Regis­seur erzählt, wie er seine Fre­undin, die für ein Jahr nach Paris geht, besucht und dort einen gebraucht­en Cam­corder kauft, auf dessen Spe­icherkarte sich noch zahlre­iche Videos des Vorbe­sitzers befind­en, einem Charles aus Toulouse, der Erstaunlich­es erlebt zu haben scheint… Mir erscheint die Kon­struk­tion (in den Details) zu unwahrschein­lich, um wahr zu sein, aber wenn es erfun­den ist, gefällt es mir ohne­hin fast noch bess­er. Sehr schönes Mate­r­i­al, zum einen eines Aufen­thalts von Charles in Afri­ka, zum anderen von Igna­cios Fre­undin Mar­i­ana, die an Sylvester in Liss­abon auf der Straße tanzt. 

Ras vkhe­davt, rode­sac cas vukurebt? (What Do We See When We Look at the Sky?, Alek­san­dre Koberidze, DE/GE 2021) Wet­tbe­werb
Ein mod­ernes Märchen: Junge Frau und junger Mann ver­lieben sich, unter­liegen aber einem Fluch und erwachen am näch­sten Mor­gen in völ­lig verän­dert­er Gestalt, so dass sie einan­der beim ersten Date nicht wieder­erken­nen. Ein Sujet von dem auf den ersten Blick fraglich ist, ob es für einen 10-minüti­gen Kurz­film aus­re­ichen würde, find­et sich hier (natür­lich um aller­hand anderes Mate­r­i­al angere­ichert) auf 2,5 Stun­den gedehnt. Erstaunlich ist, wie gut das gelingt, wie gern man das schaut. Das liegt vor allem an der Kam­er­aar­beit und an vie­len kleinen All­t­ags- und anderen Momenten, die der Film ein­fängt. Gefun­denes und Erfun­denes mis­chen sich, gehen ineinan­der über, wer­den ineinan­der mon­tiert (wobei mir allerd­ings ger­ade die Mon­tage in manchen Momenten ein biss­chen schlampig erschien, was aber dem Film eher zusät­zlichen Charme ver­lei­ht, mit Per­fek­tions­be­stre­bun­gen hat er nichts am Hut). Das ist zwar ein Film about noth­ing (oder almost noth­ing) und das ist mir eigentlich zu wenig, aber ab und an schaue ich sowas gerne. Von Ferne erin­nert mich der Film an Aque­le Queri­do Mês de Agos­to.  

Babardeala cu bucluc sau porno bal­a­muc (Bad Luck Bang­ing or Loony Porn, Radu Jude, ROM/CRO/CZE/LUX 2021) Wet­tbe­werb
Begin­nt mit Ama­teur­porn und endet in ein­er Court­room­dra­ma-Farce, dazwis­chen läuft die Pro­tag­o­nistin (eine Lehrerin, deren Video auf ein­er Porn­seite aufge­taucht ist, weshalb Eltern ihre Ent­las­sung fordern) mit Coro­na-Maske durch Bukarest und ist mit Aggres­sio­nen aller Art kon­fron­tiert. An ein­er Stelle nimmt sich die Filmhand­lung eine Auszeit und macht Platz für godard­eske Metare­flex­io­nen (inkl. Gedanken zum Kino, die von Siegfried Kra­cauer stam­men). Mir haben andere Filme des Regis­seurs bess­er gefall­en, aber schlecht ist auch dieser nicht. Dass er am Ende den Gold­e­nen Bären gewon­nen hat, hat mich allerd­ings überrascht.

Cen­sor (Pra­no Bai­ley-Bond, UK 2021) Forum
Hor­ror­film über eine Filmzen­sorin, die sich durch einen Film, den sie begutacht­en soll, an die eigene Kind­heit – das Ver­schwinden ihrer Schwest­er – erin­nert fühlt… Der Film spielt im Großbri­tan­nien der 1980er-Jahre und mis­cht Meta-Hor­ror mit klas­sis­chen Genre-Elementen.

No táxi do Jack (Jack’s Ride, Susana Nobre, PT 2021) Forum
Ein Mann kurz vor der Rente fährt durch die Gegend, um sich eine Arbeit­suche für das Amt bestäti­gen zu lassen, und erzählt von sein­er Zeit als Tax­i­fahrer in den USA. Der Pro­tag­o­nist hat eine Später-Elvis-Frisur, ist etwas unter­set­zt und auch son­st sym­pa­thisch; for­mal dek­lin­iert der Film ver­schiedene Stärkegrade der Selb­stre­flex­iv­ität durch.

Touge Sai­go no Samu­rai (The Pass: Last Days of the Samu­rai, Takashi Koizu­mi, JP 2020)
Recht klas­sis­ch­er His­to­rien­film über einen Samu­rai, der Mitte des 19. Jahrhun­derts einen Krieg zwis­chen Kaiser und Shogu­nat ver­hin­dern will, dabei aber scheit­ert und dann in Ehre unterge­hen will; mal wieder eine Stück His­to­rie aus (sym­pa­thisieren­der) Herrschen­den­per­spek­tive erzählt; Regiehandw­erk der großen japanis­chen Tra­di­tion; alles in allem etwas zu klas­sisch das.

Moon, 66 Ques­tions (Jacque­line Lent­zou, GR/FR 2021) Forum
Über eine junge Frau, die ihren schw­erkranken Vater pflegt, mit dem sie nicht viel verbindet.

Yuko No Ten­bin (A Bal­ance, Yujiro Haru­mo­to, JP 2020) Panora­ma
Eine Doku­men­tarfilmemacherin arbeit­et einen Skan­dal auf, in dessen Folge sich zwei Men­schen das Leben nehmen und wird durch ihren Vater selb­st in einen ähn­lich geart­eten Fall ver­strickt. Hat mich nicht überzeugt.

Alba­tros (Drift Away, Xavier Beau­vois, FR/BE 2021) Wet­tbe­werb
Etwas schw­er­fäl­liger Film über einen Polizis­ten, in dessen Leben eigentlich alles gut zu sein scheint, bis er im Affekt einen Fehler macht. Ein eigentlich in fast jed­er Hin­sicht (filmisch, nar­ra­tiv, diskur­siv) verzicht­bar­er Film.

Ghasideyeh gave sefid (Bal­lad of a White Cow, Maryam Moghadam, Behtash Sanaee­ha, IRN 2020).
Wet­tbe­werb­s­film über irrtüm­licher­weise ver­hängte Todesstrafe; sehr kon­stru­iert und in seinem Moral­is­mus (und auch filmisch und nar­ra­tiv) let­ztlich so kon­ser­v­a­tiv wie das hier angeklagte System.

Ter­mészetes fény (Nat­ur­al Light, Dénes Nagy, HUN/LAT/FR/DE 2021) Wet­tbe­werb
Außer­halb der Wer­tung. Den Film habe ich unter so schlecht­en Lichtver­hält­nis­sen gese­hen, dass ich ger­ade die Meriten (etwa die sehr dun­kle Mise en Scène – immer­hin hat der Film den Preis für die beste Regie erhal­ten) nicht würdi­gen kon­nte und nun das Gefühl habe, den Film (im wörtlichen Sinn) nur zur Hälfte gese­hen (und ver­standen) zu haben.

Bilanz 2013: Liebste im Kino gesehene Filme Ältere

In der Rei­hen­folge ihrer Sich­tung durchs Jahr hin­durch: die mir lieb­sten älteren Filme, die ich im zu Ende gehen­den Jahr & im Kinosaal sehen durfte.

Im Jan­u­ar im Berlin­er Arse­nal den wun­der­bar komis­chen U samogo sinego morya (By the Bluest of Seas, Boris Bar­net, SU 1936);

im Rah­men der dem japanis­chen Regis­seur Keisuke Kinoshi­ta gewid­me­ten Forum-Mini-Retror­spek­tive während der Berli­nale Kanko no machi (Jubi­la­tion Street, J 1944), der während des 2. Weltkriegs spielt, aber bis auf eine kurze Coda gän­zlich unpro­pa­gan­dis­tisch, son­dern wie ein sehr zärtlich­es shomin-geki daher kommt, das jede Fig­ur des Ensem­bles vor­sichtig und mit Anmut umarmt;

Max Ophüls Liebelei (D 1933), der mir nicht aus dem Kopf gegan­gen ist, seit ich ihn im Feb­ru­ar im Zürcher Film­podi­um sah;

von der von der Canine Con­di­tion kuratierten Rei­he zum klas­sis­chen chi­ne­sis­chen Film, die im März im Arse­nal lief, kon­nte ich nur sehr wenig sehen; darunter immer­hin und zu meinem Glück Shen Nu (The God­dess, Wu Yong­gang, CN 1934), einen großen klas­sis­chen Stumm­film mit vie­len Großauf­nah­men von viel­sagen­den Gesichtern, der weniger exaltiert wirk­te als andere (nicht weniger großar­tige) Schang­hai-Filme dieser Jahre;

sehr ein­drück­lich auch, Ende März, nun wieder im Film­podi­um und in Begleitung ein­er Grup­pen­im­pro­vi­sa­tion vom ioicL’Atlantide (Jacques Fey­der, F 1921), der erste gen­uine Wüsten­film, der, in der Sahara gedreht, alle Tropen (Ver­loren­heit, Exotik, Hal­luz­i­na­tio­nen) dieses Qua­si-Gen­res in eine ver­wirrend kom­plexe und visuell berauschende Flash­back-Erzäh­lung bettet;

 

L’at­lantide

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Die Alternative von Krieg ist nicht immer Frieden

Krieg oder nicht Krieg? Die Frage war bish­er für mich und wahrschein­lich jeden anderen halb­wegs gescheit­en Men­schen ziem­lich ein­fach zu beant­worten: natür­lich dage­gen! Das hat­te nichts mit ein­er wie-auch-immer geart­eten Dage­gen-Öffentlichkeit zu tun, son­dern mit Ver­nun­ft. Doch tun wir dem Dage­gen-Autor Lobo den Gefall­en und nehmen seinen selb­stre­f­er­en­tiellen S.P.O.N.-Artikel als Anre­gung und sind “kon­struk­tiv-kri­tis­che” Bil­dungselite und machen Gegenöf­fentlichkeit am Beispiel Libyen.

Wir, die wir uns gerne als aufgek­lärt, pro­gres­siv und auch mal paz­i­fistisch denken, manch­mal vom Ende des Kap­i­tal­is­mus oder der näch­sten Rev­o­lu­tion träu­men und wahrschein­lich nichts dage­gen gehabt hät­ten, während der Guer­ra Civ­il mal ein paar von Fran­cos Faschos abzuk­nallen, haben auf ein­mal ein dreifach­es Problem:

  1. in Libyen ist Krieg, 
  2. wir” machen nicht mit und 
  3. unser” ver­has­ster FDP-Min­is­ter ist auch dagegen.

Vor allem Let­zteres macht stutzig: Warum nun er? Heißt das, wir soll­ten bess­er dafür sein? Ein Erk­lärungsver­such. Weit­er­lesen

Alle Atombomben zwischen 1945–1998


“This piece of work is a bird’s eye view of the his­to­ry by scal­ing down a month length of time into one sec­ond. No let­ter is used for equal mes­sag­ing to all view­ers with­out lan­guage bar­ri­er. The blink­ing light, sound and the num­bers on the world map show when, where and how many exper­i­ments each coun­try have con­duct­ed. I cre­at­ed this work for the means of an inter­face to the peo­ple who are yet to know of the extreme­ly grave, but present prob­lem of the world.”

1945–1998 von Isao Hashimoto

Wer wählt, wählt verkehrt — die Grünen

© Stephan Morgenstern

Turn­schuh­min­is­ter­turn­schuhe

Ich mochte die grüne Partei mal. Sog­ar aus­ge­sprochen gerne. Als es noch die Partei war der Ökos, Mul­ti­kul­tis, Paz­i­fis­ten und Hip­pies. Die “Vier Säulen”, wie es damals hieß, waren “sozial, ökol­o­gisch, basis­demokratisch und gewalt­frei”. Im Grund­satzpro­gramm von 1980 standen so schöne Dinge wie “Sofor­tiger Betrieb­sstop für Atom­an­la­gen”, “Sofor­tige Auflö­sung der Mil­itär­blöcke NATO und Warschauer Pakt”, “Abschaf­fung der Bun­deswehr”, “Exportver­bot für Rüs­tung” oder “Verkürzung der Wochenar­beit­szeit”, die 35-Stun­den-Woche als Ein­stieg. Gegen die Start­bahn West ket­teten sie sich an Bäume und es durften auch Steine geschmis­sen werden.

Auch später, als die Grü­nen langsam erwach­sen wur­den, sie 1983 knapp in den Bun­destag ein­zo­gen, Hol­ger Börn­er die Dachlat­te zur Seite legte und Josch­ka Fis­ch­er 1985 zum ersten grü­nen Min­is­ter machte, war es doch irgend­wie sym­pa­thisch, dass der Neue zur Amt­se­in­führung weiße Turn­schuhe trug. Rebell! 14 Monate hielt die Koali­tion. Eine frühe, ziem­lich kurze Pubertät. Weit­er­lesen