Lyrik IV

Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke

Der Mann:
Hier diese Rei­he sind zer­fal­l­ene Schöße
und diese Rei­he ist zer­fal­l­ene Brust.
Bett stinkt bei Bett. Die Schwest­ern wech­seln stündlich.

Komm, hebe ruhig diese Decke auf.
Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte,
das war einst irgen­deinem Mann groß
und hieß auch Rausch und Heimat.

Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust.
Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten?
Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht.

Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern.
Kein Men­sch hat soviel Blut.
Hier dieser schnitt man
erst noch ein Kind aus dem verkreb­sten Schoß.

Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. — Den Neuen
sagt man: hier schläft man sich gesund. — Nur sonntags
für den Besuch läßt man sie etwas wacher.

Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken
sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal
wäscht sie die Schwest­er. Wie man Bänke wäscht.

Hier schwillt der Ack­er schon um jedes Bett.
Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort,
Saft schickt sich an zu rin­nen. Erde ruft.

Got­tfried Benn

sexualität II

Liebe Marie, Seelenbraut

Liebe Marie, Seelenbraut:
Du bist viel zu eng gebaut.
Eine solche Jungfernschaft
Braucht mir zu viel Manneskraft.

Ich vergieße meinen Samen
Immer­dar schon vor der Zeit:
Wohl nach ein­er Ewigkeit
Aber lange vor dem Amen.

Liebe Marie, Seelenbraut:
Deine dicke Jungfernhaut
Bringt mich noch zur Raserei.
Warum bist du auch so trei?

Warum soll ich, sozusagen:
Nur weil du lang sitzenbliebst
Grade ich, den du doch liebst
Mich statt einem andern plagen?!

Bertolt Brecht

Lyrik III

Die von mir geschätzte Autorin Ulla Hahn, eini­gen Lesern vielle­icht durch ihren Roman Juden­buche, ach Quatsch, Das ver­bor­gene Wort bekan­nt, gelangte zunächst als Lyrik­erin (Stich­wort: Neue Sub­jek­tiv­ität) zu größer­er Bekanntheit.

Allein

Ich hab die Schnau­ze voll ich
bin auch müde und fürcht mich
jet­zt schon vor dem ersten war­men Tag
den kleinen Kindern und den
schwangern Frauen und was das
Früh­jahr noch erzeu­gen mag.

Ich bin allein ich hab nichts
zu ver­lieren als ein paar
Tage vom ver­gang­nen Jahr
und Angst mit mir was Neues
zu pro­bieren nicht zu krepiern
an dem was niemals war.

Atomaraskese

Ein wenig Gehirn­jog­ging fürs Woch­enende. Zunächst ein klein­er Test für das Erin­nerungsver­mö­gen: Was war nochmal mit Asse II? Im Herb­st let­zten Jahres erschien ein Bericht des nieder­säch­sis­chen Umwelt­min­is­ters, der detail­liert über die radioak­tive Kon­t­a­m­i­na­tion der Lauge in der Schachtan­lage Auskun­ft gab. Auss­chlaggebend war zum einen die Berichter­stat­tung der Braun­schweiger Zeitung, zum anderen eine kleine Anfrage der nieder­säch­sis­chen Land­tagsab­ge­ord­neten Chris­tel Weg­n­er (wer war das noch gle­ich?), die her­aus­find­en wollte, wo die aus Asse abgeleit­ete Lauge eigentlich hinge­bracht wird.
Die ganze Geschichte wuchs sich dann zu einem hand­festen Skandälchen aus, eine Stern­stunde für den Ex-Pop-Beauf­tragten Sig­mar Gabriel:

Gabriel richtete schwere Vor­würfe gegen den Betreiber und die bergrechtliche Genehmi­gungs­be­hörde. Bei­de hät­ten atom­rechtliche Maßstäbe ver­mis­sen lassen. Die Ein­lagerung von Kern­brennstof­fen wider­spreche früheren Aus­sagen. „Unglaublich“ sei auch, dass die Undichtigkeit des Berg­w­erks bere­its seit 1967 bekan­nt sei und nicht erst seit 1988. Da „grob fahrläs­sig“ gehan­delt wor­den sei, müsse auch die Frage von Strafanzeigen geprüft wer­den. Die Ein­lagerung der Atom­müll-Fäss­er sei damals in feucht­en Kam­mern erfol­gt, wie die Befra­gung von Mitar­beit­ern ergeben habe. „Es gab nie ein sicheres End­lager Asse, son­dern es wur­den bewusst Infor­ma­tio­nen zu Lau­gen­zutrit­ten unter­drückt“, kri­tisierte Gabriel.

Je nun, wie komm’ ich drauf? Ach­ja, Asse dro­ht einzustürzen, genauer gesagt, eine radioak­tiv ver­müllte befüllte Kam­mer. Bitte gehen sie weit­er, es gibt nichts zu sehen.
Unter dem poet­is­chen Titel “Die weißen Sümpfe von Wittmar” ist nun auf Tele­po­lis eine kurze Geschichte des Atom­mül­lend­lagers Asse II erschienen.Gut, nicht unbe­d­ingt wirk­lich kurz, aber sehr inter­es­sant. Ergänzend dazu sei ein Artikel aus der Zeit empfohlen:“Die Leg­ende vom Salz­s­tock”. Weit­er­lesen