Unausgegorene Gedanken zu Twelve-Nineteen Unfall oder Unfall?
Am Sonntagabend (18. Dezember) habe ich mit einem guten Freund eine lange Diskussion über die Frage individueller Schuld geführt. Dabei habe ich (mehr oder weniger ad hoc) meine These in der Formulierung zugespitzt, dass ich delinquente Akte – von Taschendiebstahl bis Mord – sämtlich als gesellschaftliche Unfälle betrachten würde. Am Montagabend (19. Dezember) stand dann die Frage „Unfall oder Anschlag?“ im Raum. Ziemlich schnell war offensichtlich, dass es sich um letzteres, einen Anschlag, also keinen Unfall handelte.
Mein Argument basiert auf einem konsequenten Determinismus. Willensfreiheit halte ich für eine Chimäre. Jeder Willensakt (und damit in der Folge jede intendierte Tat) ist das Ergebnis eines Komplexes aus kausalen Faktoren (biologischer, psychologischer und soziologischer, vielleicht sogar meteorologischer Natur). Einzelne Straftaten sind entsprechend Resultat einer komplexen Geschichte. Die Zurechnung auf einen Täter ist eine Reduktion dieser Geschichte auf ein imaginäres Agens, eine ausgesprochen unfaire Zurechnung, wie ich finde, da damit die Schuld unausgewogen auf einer Person gebündelt wird, während sie doch einem ganzen Haufen von (mehr oder weniger stark) Beteiligten zugeschrieben werden müsste. Daher halte ich individuelle Bestrafung für ungerecht. Richtiger wäre es, die sozialen Bedingungen so zu gestalten, dass entsprechende Taten unwahrscheinlicher und daher seltener werden.
Mit anderen Worten könnten wir Unfälle (verstanden als negativ bewertete, nicht intendierte Handlungsfolge) und Verbrechen (intendierte Taten) gleichbehandeln – selbst dann, wenn wir den kategorialen Unterschied anerkennen –, nämlich in beiden Fällen versuchen dafür zu sorgen, dass die Bedingungen derart sind, dass sie weniger häufig (oder weniger heftig) vorkommen.
Interessanterweise passiert genau das bereits. Zwar fahndet die Polizei nach dem/den individuellen Täter/n. Gleichzeitig läuft aber die öffentliche Diskussion so, dass vor allem nach wirkungsvollen Präventionsmaßnahmen gesucht wird: Wie können wir verhindern, dass sich junge Menschen dem Islamismus anschließen? Wie können wir verhindern, dass sich Islamisten radikalisieren? Wie können wir verhindern, dass radikale Islamisten an Waffen gelangen und Anschläge planen? Wie können wir öffentliche Orte so ausstatten, dass sie weniger Angriffsfläche für Anschläge bieten?
Wo die Debatte so geführt wird, wird sie in meinem Sinne geführt, wird sie so geführt, wie sie meines Erachtens geführt werden sollte. Das schließt allerdings ein, wie ich zugeben muss, dass die individuellen Täter dingfest gemacht werden sollten, schon allein weil sie in ihrem radikalisierten Zustand eine Gefahr weiterer Anschläge darstellen. Hier ist die gesellschaftliche (und anderweitige) Komplexität doch ziemlich deutlich in einigen Personen gebündelt, die Reduktion der Komplexität also in gewissem Maße sinnvoll.
Das muss eine interessante Diskussion gewesen sein. Ich frage mich, ob dein Argument nicht dazu führt, dass man jegliche Verantwortung für sein vergangenes Handeln ablehnen kann, indem man sagt: Du musst eben die Bedingungen ändern, damit ich das in Zukunft nicht mehr tun werde. Das wäre eine Einladung, sich rhetorisch selbst zu entmündigen, um wie bisher weitermachen zu können. Was sollte einen in deiner Konstruktion davon abhalten?
Die Argumentation erinnert mich in der Konsequenz auch gläubige Fundamentalisten, die ihr eigenes Handeln als gesteuert beschreiben. In einem Fall sind die Umstände, im anderen ist Gott die Ursache, weshalb ich so handle.
Dieser freie Wille, den du für eine Chimäre hältst, ist zudem ein Grund, weshalb ich für Kritik offen bin: Weil ich verantwortlich für mein Handeln bin, bin ich auch offen dafür, was andere an mir zu kritisieren haben, sofern sie von den Folgen meines Handelns betroffen sind. Wenn das wegfällt, müsstet du eine andere Motivation angegeben, warum jemand offen für Kritik sein sollte.
Zuletzt: Dass einen die Umstände prägen, sieht auch das liberale Strafrecht vor. Deshalb spielt die Biographie einer Täterin vor Gericht eine Rolle. Gleichzeitig sorgen liberal-demokratische Gesellschaften in einem bestimmten Maß dafür, dass wir Handlungsspielräume haben. Ich konstruiere ein Beispiel: Weil Armut eine Ursache für Kriminalität ist, sollen alle die Möglichkeit haben, einen guten Schulabschluss zu machen, um dann ein gutes Auskommen zu finden. In der Realität findet das in dieser Weise nicht statt. Das widerspricht aber nicht der Idee des Handlungsspielraums. Den gibt es meines Erachtens fast immer. Wenn dein konsequenter Determinismus so etwas nicht vorsieht, ist er empirisch dürftig.
Ich habe den Eindruck, dass deine Theorie auch philosophisch problematisch ist. Wenn alles durch vergangene Ereignisse bestimmt ist, warum sollten wir dann handeln können? Handeln besteht darin, einen Anfang setzen zu können. Wenn das nun bloß eine Chimäre sein soll, sehe ich gute Gründe, daran festzuhalten. Zum Beispiel ist sie eine Motivation, etwas politisch ändern zu wollen. So kämpft die Linke kämpft wider alle Umstände für eine gesellschaftliche Umwälzung. Sie kämpft dafür, das wir größere Handlungsspielräume haben.
Und wenn du das liberale Strafrecht kritisieren willst, gibt es noch einige andere Argumente, die nicht auf deine extravagante philosophische Position angewiesen sind. Es ist ja kein Geheimnis, dass etwa die Haftstrafe wenig zur Resozialisierung beiträgt.
Hey Ruben, danke für Deine Einwände. Ich möchte versuchen, auf sie zu antworten. Beim Nachdenken darüber ist mir aufgefallen, dass ein Grundproblem vielleicht darin besteht, dass man jeweils von den eigenen unhinterfragten Axiomen ausgeht. So nimmst Du bei Deinem ersten Einwand an, dass man verschiedene Handlungsmöglichkeiten hätte, sich dann perfiderweise für die moralisch verwerflichere entscheidet, um dann die Verantwortung auf die Umwelt abzuwälzen, als Persilschein alle mögliche Scheiße zu bauen. Aber ich glaube ja eben gar nicht, dass es diese Möglichkeit gibt. Wir handeln, wie wir handeln, weil wir auf extrem komplexe Weise dazu konditioniert sind. Ich z.B. würde niemanden ausrauben, vergewaltigen, ermorden, auch wenn ich dann sagen könnte: Die Umstände waren es. Das ist einfach keine realistische Option, sondern eine krude Weltsicht, auch wenn sie sich vielleicht plausibel anhört. Negative Handlungssanktionen können allerdings, das gebe ich gern zu, als weiterer determinanter Faktor wirken, der z.B. dazu führt, dass ich eine gewisse Handlung unterlasse. In diesem Sinne hast Du also recht und darin liegt vielleicht auch schon die Krux der Diskussion: Obwohl sie (unter meinen Axiomen) extrem ungerecht ist, ist die individuelle Schuldzuschreibung (in manchen Fällen, in gewissem Maße) funktional, weil sie als weitere Determinante im handlungsstrukturierenden Spiel wirkt.
Zum zweiten Einwand: Dein Gott ist dann wohl das willensfreie und ‑starke Individuum? Dein Fundamentalismus der Linksliberalismus? (Können wir gern als Polemik verbuchen und fallen lassen.)
Zum dritten Einwand: Ganz im Gegenteil: Kritikoffen bist Du gerade, weil Du (wenn auch in höchst eingeschränkten Maße) determinierbar bist. Eine realistische Geschichte der Wirksamkeit von Kritik müsste komplexer sein. Man könnte das mal empirisch an sich selbst rekonstruieren, versuchen, die Geschichte nachzuerzählen, die beim letzten Mal dazu geführt, dass man aufgrund von Kritik seine Meinung und sein Verhalten geändert hat. Jedenfalls schwant mir, dass Du meine Determinismus-These gründlich missverstehst, wenn Du meinst, sie schließe die Annahme und Wirksamkeit von Kritik aus.
Zum vierten Einwand: Empirisch dürftig? Was ist Deine Empirie? Wir sollten an dieser Stelle die Diskussion eine Stufe tiefer legen, nämlich wirklich noch mal die philosophische These angucken. Ich halte die Ergebnisse Deiner empirischen Anschauung für Trugschlüsse, die strukturell denen ähneln, die aus der Tatsache, dass jeden Morgen die Sonne aufgeht, ableiten, die Sonne drehe sich um die Erde. Es ist eine begründete Illusion. Du wurdest determiniert anzunehmen, Du hättest Handlungsfreiheit, obwohl Du sie nicht haben kannst. Woher ich das weiß? Ich kann es nicht wissen. Aber mir erscheint es inkohärent, unser ansonsten kausalistisches Weltbild (wir fragen ja immer nach Ursachen und Bedingungen, nicht nur die gesamte Wissenschaft basiert darauf, auch unser ganzes Alltagsverständnis: Warum kommt die Tram zu spät? Muss ich besonders vorsichtig gehen, weil es draußen glatt ist? etc.) am Punkt der Person zu spalten. Und es gibt bislang auch bei Willensfreiheitsideologen wie John Searle keine auch nur halbwegs plausible Erläuterung, wie Willensfreiheit in einer deterministischen Welt funktionieren soll. (Ich möchte hier noch mal betonen, dass der Determinismus selbst nicht bewiesen werden kann, sondern nur ein sinnvolles, transzendentalpragmatisches Axiom ist, ohne das aber de facto kaum jemand auskommt… Mein Argument zugunsten des Determinismus liefe also in ähnlichen Bahnen wie das von Searle in “Die Konstruktion der gesellschaftliche Wirklichkeit” zugunsten des Realismus gegebene.)
Damit wäre ich beim letzten Punkt: Ich lehne diese Wunschkonzertargumentation ab. Ich gucke mir nicht erst an, was wünschenswert ist und suche mir dann die Argumente dafür zusammen, sondern versuche zu verstehen, wie die Welt funktioniert, wie unser Verständnis der Welt funktioniert usw. Deswegen bin ich für alle neuen Informationen und neuen Argumente offen. D.h. ich beginne nicht damit, das liberale Strafrecht kritisieren zu wollen, sondern umgekehrt, ich komme nur darauf, es zu kritisieren, weil es mir im Licht meiner (vermeintlichen oder vorläufigen) Erkenntnisse über die Welt als widerlich erscheint.