Notizen zur Berlinale 2012 ALLES
KANN
Kino to ashita no aida (Between Yesterday and Tomorrow, Kawashima Yuzo, J 1954)
solides klassisches japanisches Studiokino zu Fragen von Tradition & Neuerung, Loyalität & Innovation, Geld & Liebe
Okraina (Outskirts, Boris Barnet, SU 1933)
spielt zu Beginn und am Ende des 1. WKs in einem kleinen Provinzort, vor allem rund um eine große Schusterei und an der Front im Krieg mit den Deutschen; kreativer Einsatz des technisch noch sehr primitiven Sounddesigns
Zolotoye ozero (Golden Lake, Vladimir Shneiderov, SU 1935)
in jeder Hinsicht wilder Abenteuer- und Expeditionsfilm
Captive (Brillante Ma. Mendoza, GB/PHI/D/F 2012)
auf realen Gegebenheiten basierendes Geiseldrama: auf einer philippinischen Insel wird eine Gruppe Touristen & Entwicklungshelfer von Islamisten entführt; Mendoza filmt das erratisch, was stellenweise zu einer seltsamen, eigenen Bildschönheit gerät (Autofokus, der vorne auf irgendwelche Seile scharf stellt, während hinten die Gruppe leicht unscharf bleibt), dann wieder fast unbeholfen aussieht (als spiele die digitale Technik den Bildern üble Streiche); immer wieder werden die Tiere des Dschungels gefilmt: Fledermäuse, Ameisen, Echsen, Schlangen, die einen Vogel fangen — was das soll, bleibt fraglich; überhaupt wundert man sich, was der Film resp. sein Macher eigentlich will; letztlich ist das ein Realismus der schlechteren Sorte: der nichts durchdringt und nichts eröffnet
Was bleibt (Hans Christian Schmid, D 2012)
die nächste kleinere Enttäuschung; erzählt eine Geschichte aus großbürgerlichem Milieu mit großbürgerlichen Problemen — ein junger Schriftsteller lebt in Trennung von seiner Freundin, mit der er ein Kind hat, die Zahnarztpraxis des Bruders will nicht recht in Gang kommen, die Mutter hat eine schwere Depression, der Vater eine Affäre mit einer anderen Frau; Lars Eidinger ist hervorragend, die anderen Schauspieler größtenteils mindestens ok, handwerklich ist der Film absolut solide und die Musik von Notwist stört nur in manchen Momenten ein bisschen
NIX
Formentera (Ann-Kristin Reyels, D 2012)
Paar ist reif für die Insel, er (der dän. Darsteller Thure Lindhart, der aussieht wie Boris Becker, nur ein bisschen mongoloider) spielt mit dem Gedanken, eine Solarfirma aufzumachen, hat ihr (Sabine Timoteo, sieht wie immer gut aus, ist aber wieder mal im falschen Film) nix davon erzählt, sie streift dann alleine rum und schwimmt im Suff nach Ibiza
Gasi (Choked, Kim Joong-hyun, Korea 2011)
schon handwerklich ziemlich misslungener Film über Verstrickungen durch private Verschuldung; man merkt den Einfluss von Hong Sang-soo auf diese Art von koreanischem Indiekino, merkt auch die Absetzbewegung davon sowie den Versuch, einen Film zu einem aktuellen Thema zu machen: alles furchtbar bemüht und daneben
L’enfant d’en haut (Ursula Meier, CH/F 2012)
ein Film, von dem ich deutlich mehr erwartet habe; bleibt ein Stück überflüssiges, hübsch anzusehendes Arthouse-Kino; belanglos & uninteressant, eigentlich sogar ziemlich ärgerlich
MUSS
Shakhmatnaya goryachka (Chess Fever, Vsevolod Pudovkin, Nikolai Shpikovsky, SU 1925)
wunderbar verspielte Komödie über das Schachfieber, das in der ganzen Bevölkerung während einer Schach-WM ausbricht und fast eine Beziehung ruiniert; erstaunlich unpolitisch
Bestialités (Denis Côté, KAN 2011)
essayistische Doku über einen Safaripark und das Verhältnis der Menschen zu anderen Säugetieren; beginnt mit Menschen, die eine ausgestopfte Gazelle zeichnen; dann Tiere in Käfigen; oft sehr nah, fragmentiert, dekadriert, u.a. geht es um deren Widerständigkeit; der Krach, den die auf viel zu engem Raum eingesperrten Zebras veranstalten, klingt wie Knastrevolte
Aujourd’hui (Alain Gomis, SEN/F 2012)
reichlich enigmatischer Film über einen vom Spoken-Word-Performer Saul Williams gespielten Mann, der sich in seiner Heimatstadt Dakar von seinem Leben verabschiedet; rätselhaft und irgendwie berührend
Dva okeana (Two Oceans, Vladimir Shnejderov, SU 1933)
sehr schöne Doku über eine Nordsee-Expedition
Suzaki paradise: Akashingo (Suzaki Paradise Red Light, Kawashima Yuzo, J 1954)
sehr guter sozialrealistischer Film über ein Paar, das aus Geldmangel Jobs im Rotlichtviertel annimmt; die Meisterschaft, die in Goshos teilweise ähnlichen Filmen zum Ausdruck kommt, auch hier: die kluge Mise en scène, die Genauigkeit im Detail; und selten ist ein Protagonist in diesem Maße zur Handlung eigentlich unfähiger “Antiheld”
Tabu (Miguel Gomes, PT/D/BRA/F 2012)
das erste (und wahrscheinlich einzige) Meisterwerk im diesjährigen Wettbewerb: eine Hommage an den Stummfilm und dokumentarische Amateuraufnahmen aus Afrika; ein Film über Kolonialismus und Postkolonialismus; formalästhetischer Eigensinn (erinnert von Ferne an Raya Martins Filme) und guter Humor; nicht zuletzt ein ergreifender Liebesfilm
Die Lage (Thomas Heise, D 2012)
Beobachtungen der Vorbereitungen des Papstbesuchs in Erfurt im September letzten Jahres; eine Gedicht von Barthold Heinrich Brockes am Anfang legt die Lesart nahe: hier geht es um den Blick eines Atheisten auf ein staatlich organisiertes Religionsspektakel; die Auswahl des Materials wird fast zu einer antikatholischen Polemik, so wenn sich der Spruch aus dem Korintherbrief «Wer wenig sät, der wird auch wenig ernten; wer aber viel sät, der wird auch viel ernten» aus dem Kontext genommen als genau das entpuppt, was er ist: eine plumpe Quasitautologie. Bemerkenswert auch der Moment, in dem der Sprecher von Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht der Presse vom Gespräch seiner Chefin mit dem Papst berichtet. Ungefähr zehn Minuten hätten die beiden sich unterhalten, und sie habe ihm gesagt, wie toll ihr dessen Rede vor dem Bundestag gefallen habe. Auch ihr sei wichtig, dass der Glaube das Fundament der Politik bilden müsse, weil diesem sonst die ethische Grundlage fehle. Und sie habe ihm ihre Doktorarbeit aus dem Jahr 1982 überreicht, in der sie ihn schon zitiert habe (damals war er noch Kardinal Ratzinger). Bemerkenswert ist das, weil man sich doch fragen muss, was eine katholische Fundamentalistin als Oberhaupt einer mehrheitlich atheistischen Bevölkerung macht. Und dann, ob sie wirklich so beschränkt ist, im Jahr 2011 noch zu glauben, ohne Religion könne es keine Ethik geben. Meine Fresse.
Toata lumea din familia noastra (Everybody in Our Family, Radu Jude, ROM/NL 2012)
der beste Spielfilm im Forum (ich habe natürlich längst nicht alle gesehen, kann mir nur nicht vorstellen, dass noch einer so gelungen ist); hätte von mir aus gern auch im Wettbewerb laufen können — besser war da eigentlich nur Tabu (und vielleicht Aujourd’hui); es geht um einen Vater, der mit seiner Tochter in Urlaub fahren will, und dann feststellen muss, das seine Exfrau offenbar eine Krankheit der Kleinen fingiert, damit die Reise nicht zustande kommt; nach und nach eskaliert die Situation immer mehr — und das Brillante ist, wie wenig unplausibel diese Eskalation wirkt, ja wie wenig unverständlich einem die Gewalt vorkommt, die der Mann ausübt; der Film ist jeder Hinsicht perfekt: Drehbuch, Dialoge, Kamera und vor allem das vollkommen erstaunliche Schauspiel; das rumänische Kino zeigt einmal mehr, dass nicht nur die Regisseure der ersten Reihe (Puiu, Mungiu, Porumboiu) Meisterwerke hervorbringen, sondern eine ganze (ohne Zweifel sehr begabte) Generation von Filmemachern in ihrer Spielart des filmischen Realismus eine perfekte Ausdrucksform gefunden hat und diese immer weiter entwickelt
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P.S.: Eben wurden die Bären vergeben. Die große Überraschung ist sicher der goldene für die Tavianis. Damit hat niemand gerechnet; die Kritikerinnen äußerten sich alle eher negativ bis verhalten zu dem Film. Ich habe ihn nicht gesehen. Den silbernen Bären für die beste Regie hat — wohl zurecht — Christian Petzold bekommen, den großen Preis der Jury der ungarische Film Just The Wind von Bence Fliegauf. Meinem Lieblingsfilm im Wettbewerb, Tabu, hat die Jury immerhin den Alfred-Bauer-Preis für filmische Innovation zugesprochen, was Regisseur Miguel Gomes witzig mit den Worten kommentierte, er habe doch eigentlich einen altmodischen Film machen wollen.
Ein gutes Fazit des Festivals, dem ich in der Tendenz auf jeden Fall zustimmen würde, liefert Lukas Foerster beim Perlentaucher.
[…] unschön an Ann-Kristin Reyels Formentera, den schwächsten Film, den ich auf der letzten Berlinale Jahr gesehen habe. Ähnlich geht hier die touristische Schönheit der Bilder mit der Langeweile […]