Unwort des Jahres 2010: Deutsche Leitkultur

Grafik zur LeitkulturSeit 1991 wird hierzu­lande jährlich ein Unwort des Jahres gekürt. Auch für 2010 wer­den von Prof Dr. Schloss­er der Uni­ver­sität Frank­furt schon Vorschläge entgegengenommen:

Gesucht wer­den sprach­liche Miss­griffe in der öffentlichen Kom­mu­nika­tion, die 2010 beson­ders neg­a­tiv aufge­fall­en sind, weil sie sach­lich grob unangemessen sind und möglicher­weise sog­ar die Men­schen­würde ver­let­zen. Dabei kann es sich um einzelne Wörter oder For­mulierun­gen han­deln, die in der Poli­tik oder Ver­wal­tung, in Kul­turin­sti­tu­tio­nen oder Medi­en, in Wirtschaft, Wis­senschaft, Tech­nik oder in einem anderen Bere­ich öffentlich ver­wen­det wur­den. Vorschläge kön­nen von allen Deutschsprachi­gen im In- und Aus land gemacht wer­den. Eine Quel­lenangabe wird erbeten. (http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb10/IDLD/ehemalige_histSprw/ Schlosser/unwortdesjahres/presse/index.html)

Ein solch­er sprach­lich­er Miss­griff find­et sich in der aktuell geführten Debat­te zur Inte­gra­tion und konkret im Begriff “Deutsche Leitkul­tur”, der heutzu­tage wieder Kon­junk­tur hat. Im Begriff “Deutsche Leitkul­tur” schwingt ein Gedankengut mit, das schon im drit­ten Reich erfol­gre­ich zur Ver­fol­gung zweifel­hafter poli­tis­ch­er Ziele bemüht wurde. Der Begriff “Deutsche Leitkul­tur” sug­geriert eine nationale Iden­tität, die sich vom Anderen, Frem­den abgren­zen und ihre Eigen­ständigkeit gegen die Ver­fälschung oder Ver­wässerung durch externe Ein­flüsse vertei­di­gen will. Ins­beson­dere der Islam wird als neue Bedro­hung der deutschen Iden­tität iden­ti­fiziert und impliz­it zum neuen Feind­bild verdichtet, auf das die Äng­ste der Bevölkerung fokusiert wer­den sollen. Dadurch, dass man die Bekämp­fung dieser Bedro­hung ver­spricht, stellt man sich selb­st als patri­o­tis­chen Helden dar, bietet ein Bild der Stärke, eine Zuflucht. Diese Aus­nutzung von difusen Äng­sten in der Bevölkerung zu poli­tis­chen Zweck­en und deren Fokusierung auf das Fremde — im drit­ten Reich der Jude, heute der Islam — war der Grund­movens nation­al­sozial­is­tis­ch­er Pro­pa­gan­da und liegt auch der aktuellen Inte­gra­tions­de­bat­te zugrunde.  Der Begriff “Deutsche Leitkul­tur” bildet ein zen­trales Ele­ment dieser Debat­te und damit einen geeigneten Kan­di­dat­en für das Unwort des Jahres 2010.

Densel­ben Vorschlag machte schon im Jahre 2000 der Tübinger Lit­er­atur­wis­senschaftler und Autor Wal­ter Jens — Spiegel Online berichtete: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,101365,00.html. Wäre der Begriff “Deutsche Leitkul­tur” schon im Jahre 2000 zum Unwort des Jahres gekürt wor­den — vielle­icht wäre uns die diesjährige Debat­te erspart geblieben.

Eine schöne Quel­lenangabe zur aktuellen Prä­gung des Begriffs “Deutsche Leitkul­tur” bescherte uns der Bayrische Min­is­ter­präsi­dent und CSU-Vor­sitzende Horst See­hofer mit der fol­gen­den Äußerung vom 15. Okto­ber 2010 auf dem Deutsch­land­tag der Jun­gen Union (JU) in Pots­dam “Wir als Union treten für die deutsche Leitkul­tur und gegen Mul­ti­kul­ti ein — Mul­ti­kul­ti ist tot.” In Bild und Ton ist diese Äußerung hier dokumentiert.

Etwa 400 Vorschläge wur­den schon ein­gere­icht — eigene Vorschläge sollen gerichtet wer­den an “Prof. Dr. Horst Dieter Schloss­er, Uni­ver­sität Frank­furt (Fach 161), 60629 Frank­furt a.M.” oder per E‑Mail: “unwort@em.uni-frankfurt.de. Über Eure Unter­stützung bei der Platzierung von “Deutsche Leitkul­tur” als Unwort des Jahres 2010 würde ich mich freuen — ein­fach per E‑Mail oder Brief als Vorschlag bei Prof. Schloss­er ein­re­ichen und auf eine geeignete Quel­lenangabe (s. o.) verweisen.

Als Inspi­ra­tion und Moti­va­tion hier noch die Liste der bish­eri­gen Unwörter in die wir uns damit ein­rei­hen könnten.

1991 aus­län­der­frei (frem­den­feindliche Parole in Hoyerswerda)
1992 eth­nis­che Säu­berung (Pro­pa­gan­da im ehe­ma­li­gen Jugoslawien)
1993 Über­frem­dung (Scheinar­gu­ment gegen Zuzug von Ausländern)
1994 Peanuts (Äußerung des dama­li­gen Deutsche-Bank-Chefs Kop­per über die 50-Mil­lio­nen-Ausstände des Betrügers Jür­gen Schnei­der bei Handwerkern)
1995 Diä­te­nan­pas­sung (Beschöni­gung der Erhöhung von Bezü­gen für Bundestagsabgeordnete)
1996 Rentnerschwemme
1997 Wohl­standsmüll (Beschrei­bung Arbeit­sun­williger und Arbeit­sun­fähiger durch Hel­mut Mauch­er von Nestlé)
1998 sozialverträglich­es Früh­ableben (Zitat des Ärztepräsi­den­ten Karsten Vilmar)
1999 Kol­lat­er­alschaden (Ver­harm­lo­sung der Tötung von Men­schen im Krieg)
2000 nation­al befre­ite Zone (Zynis­mus von Rechtsextremisten)
2001 Gotteskrieger (Beze­ich­nung islamistis­ch­er Terroristen)
2002 Ich-AG
2003 Tätervolk
2004 Humankapital
2005 Entlassungsproduktivität
2006 frei­willige Aus­reise (bei abgelehn­ten Asylbewerbern)
2007 Herd­prämie (dif­famieren­der Aus­druck für staatliche Unter­stützung von Kindes­be­treu­ung zu Hause)
2008 notlei­dende Banken
2009 betriebsratverseucht

4 Meinungen zu “Unwort des Jahres 2010: Deutsche Leitkultur

  1. Gesagt, getan, die mail hab ich ger­ade geschrieben. Allerd­ings mache ich mir keine große Hoff­nun­gen, dass — selb­st wenn das Wort gekürt wer­den sollte — dies irgen­deinen pos­i­tiv­en Effekt auf das poli­tis­che Kli­ma hätte. Der struk­turelle Ras­sis­mus bah­nt sich sein Wege so oder so. Da hil­ft auch Sprach­hy­giene nicht (viel).

    • Danke Gui­do!
      Meine Mail ist natür­lich auch schon lange ver­sandt — es scheint aber starke Konkur­renz für das Unwort des Jahres 2010 zu geben — alter­na­tiv­los, Vuvuzuela, … aber natür­lich keins so zwin­gend wie “Deutsche Leitkul­tur” … warten wirs ab.

  2. […] Schluss noch ein paar Worte in eigen­er Sache: Bei den Recherchen zum Artikel “Unwort des Jahres 2010: Deutsche Leitkul­tur” stieß ich auf fol­gende Face­book­gruppe, die gerne den Begriff “Alter­na­tiv­los” zum Unwort des […]

  3. […] ob auch das Unwort des Jahres 2010 aus dem Dun­stkreis von Stuttgart 21 gewählt wird — so bekommt unser Vorschlag “Deutsche Leitkul­tur” als Unwort des Jahres 2010 vielle­icht reelle […]

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